Bei der Ankunft im Kapitol
weine ich fast. Aber nur fast. Immer fordere ich mich selbst auf, stark zu
bleiben. Doch leicht ist es nicht. Warum sollte man auch nicht weinen, wenn der
Tod unmittelbar bevorsteht? Sich Hoffnungen zu machen, an einer Stelle, an der
es keine Hoffnung mehr gibt, das halte ich für ziemlich sinnlos. Doch alles was
ich will ist mit Stolz sterben. Mein unspektakulärer Tod wird für ihre Show
reichen müssen.
Mein Name ist Quinn
Linderson und ich werde Distrikt 5 bei den dreiundfünfzigsten Hungerspielen
vertreten. Ich bin keine gute Wahl dafür. Doch wenn sich niemand freiwillig
meldet muss eben das Los entscheiden. Und dabei kann es auch mal eine schlechte
Ernte geben. Wie in meinem Fall. Ich werde nicht die geringste Chance haben,
bei den Hungerspielen zu gewinnen. Vierundzwanzig Tribute sind es und nur einer
kommt lebend wieder da raus. Ich bin durchschnittlich. Nirgendwo besitze ich
besondere Fähigkeiten, schon gar nicht was das Kämpfen und Überleben angeht.
Ich bin eine durchschnittliche Schülerin, lebe in einem durchschnittlichen Haus
mit durchschnittlichen Eltern. Im Distrikt der Energiegewinnung arbeitet mein
Vater im Kraftwerk und verdient genug, damit wir in einem Haus leben können und
immer genug zu essen haben. Ich habe keine Geschwister.
Und das schlimmste ist:
Ich verabscheue Gewalt. Ich kann mir nicht vorstellen in wenigen Tagen Menschen
zu töten oder jagen zu gehen um am Leben zu bleiben. Doch wenn ich die
Hungerspiele möglichst lange überstehen will muss ich es tun. Selbst wenn man
weiß, dass man lebend nicht mehr rauskommt, zögert man seinen Tod ja nun doch
irgendwie heraus. Das ist nur menschlich.
Neben mir im Zugabteil
steht Michael. Ein großer, bulliger Junge von siebzehn Jahren. Selbst wenn ich
alle anderen Tribute überleben werde, an ihm werde ich niemals vorbeikommen. Er
ist riesig und mit Muskeln bepackt. Wenn seine Art auch oft etwas dümmlich ist,
ist er eine Kampfmaschine. Manchmal habe ich den Eindruck, dass er sein Leben
lang trainiert hat, ähnlich wie die Karrieros, um im Ernstfall gewappnet zu
sein. Bei der Ernte hat er keine Miene verzogen, ebenso wenig wie jetzt. Er
steht einfach nur da. Am Gleis stehen viele Leute aus dem Kapitol. Sie winken
uns begeistert zu, starren uns an und mustern ums um festzustellen, ob wir
eventuell einen Favoriten darstellen können. Ich schon mal nicht. Michael
vielleicht. Bei all ihren bunten Kostümen und dem penetranten Parfumgeruch wird
mir übel. Ich drehe mich um und gehe auf die Abteiltür zu um nicht mehr aus dem
Fenster sehen zu müssen. Willkommen zu
den dreiundfünfzigsten, alljährlichen Hungerspielen. Möge das Glück stets mit
euch sein. Bei dem Gedanken bildet sich ein saures Lächeln auf meinem
Gesicht aus. Meine Augen bleiben weiterhin glasig.
Der Abschied war
schrecklich. Meine Mutter hat die ganze Zeit geweint und mein Vater wusste gar
nicht wo er hinsehen sollte. Sie haben sich nicht endgültig verabschiedet.
Äußerlich nicht. Sie haben gesagt, ich solle nie den Mut verlieren und
durchhalten, dann würde ich schon wieder zuhause ankommen. Doch in ihrem
Inneren wissen sie genau wie ich, dass es gegen die anderen nicht ausreichen
wird, Mut zu haben. Und in ihrem Inneren haben sie sich auch endgültig von
ihrem einzigen Kind verabschiedet. Ich habe nie zusätzliches Essen holen müssen
und andere Dinge tun müssen, weshalb mein Zettel nur dreimal in der Urne
gelegen hatte. Für jedes neue Jahr einer. Mit zwölf der erste, jetzt bin ich
vierzehn. Doch drei Zettel haben gereicht. Andere sind so alt wie ich und haben
sicher fünfzehn Zettel. Aber jetzt bin ich hier gelandet.
Wir werden nicht in unser Quartier
gebracht, sondern gleich zu den Stylisten. Für Distrikt 5 sind zwei Frauen
zuständig. Ihre Namen sind Terra und Marcy. Beide bunt und schrill. Beide hoch
motiviert Michael und mich in verkleidete Gestalten zu verwandeln, die nicht
mehr viel mit uns zutun haben. Uns beide
stecken sie in aufwendige Kostüme, silbern und schwarz, die über und über mit
Blitzen aus einem besonderen Stoff übersäht sind. Wenn ich mich in meinem Kleid
drehe sieht es so aus, als würden echte Blitze darüber zucken. Sie sollen für
die Energie stehen, die unser Distrikt gewinnt. Michael hat den gleichen Stoff
bekommen. Sein Kostüm sieht fast genauso aus wie meins, nur dass es kein Kleid,
sondern ein einteiliger Anzug ist. Seine braunen Haare werden mit silbernem
Staub bestreut. Mit Schminke malt Terra ihm weitere Blitze auf die Wange die
den Hals hinab bis in den Ausschnitt seines Kostüms hineinlaufen. Auch ich
bekomme diese Blitze auf die Wangen. Dazu flechten sie mein glattes schwarzes Haar
zusammen mit silbernen Bändern am Ansatz in Zick-Zack-Form den Kopf entlang. Da
es recht lang ist, bleibt am Ende des Kopfes noch etwas übrig. Also wird der
Rest der dünnen Strähnen auch noch geflochten und bildet so den Abschluss
meiner Frisur. Ich sehe in den Spiegel und erkenne mich selbst kaum wieder.
Marcy vollendet ihr Werk mit einem perfekten Liedstrich. Ich sehe tatsächlich
eindrucksvoll aus. Ein wenig kraftvoller als normalerweise. Und irgendwie etwas
gefährlich. Doch beim Training werden sie schon sehen, dass ich nicht
gefährlich bin. Ich zwinge mich, nicht an die folgenden Tage sondern nur an den
anstehenden Auftritt zu denken. Die Eröffnungsfeier ist für alle Tribute
wichtig, um Sponsoren zu werben. Der erste Eindruck zählt. In den ganzen
Kostümen fällt dieser oft besser und beeindruckender aus als in seiner normalen
Gestalt.
Noch zehn Minuten. Wir
werden nach draußen gescheucht und sehen die anderen Tribute zum ersten Mal.
Schnell lasse ich einen Blick über sie schweifen, doch sie jetzt genau zu
mustern lohnt sich nicht. In ihrer Verkleidung sieht man sie nicht wirklich.
Man kann sie so nicht einschätzen. Also versuche ich sie auszublenden und
stelle mich mit Michael auf unseren Wagen. Die Pferde, die ihn ziehen sind
schwarz, passen perfekt zu unseren Kostümen. Sie sind so gut erzogen, dass
niemand sie lenken muss. Beim Signal werden sie ihre Bahn entlanglaufen und am
Ende stehen bleiben. Vermutlich sind es jedes Jahr dieselben Pferde, bis sie
alt und klapperig sind. Im Kapitol ist Alter verpönt. Es wird versucht, immer
und überall das Jugendliche zu erhalten. Als das Signal ertönt und die großen
Türen sich öffnen um die Wagen mit den Tributen durchzulassen, traben alle Pferde
wie auf Kommando gleichzeitig los und halten die ganze Fahrt über den selben
Abstand ein.
„Willkommen, Tribute von
Panem!“ Und nachdem der Kanzler uns mit diesen Worten begrüßte schaltete ich
ab. Ich will das alles gar nicht.
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