Ich stehe im Glaszylinder,
der mich nach oben in die Arena fährt. Das Frühstück ist recht karg
ausgefallen. Ich konnte nichts runter bringen obwohl ich genau weiß, dass ich
es bereuen werde. Dennoch hatte ich Angst, es wieder auszuwürgen.
Meine Kleidung ist
einfach. Stoffhose, Pulli, Stiefel und eine Regenjacke. Es ist das, was alle
Tribute anhaben. Deshalb sehen sie fast alle gleich aus. Der Boden meines
Zylinders fährt langsam nach oben. Mit ihm steigt wieder meine Panik. Nach etwa
fünfzehn Sekunden bin ich angekommen. Sofort sehe ich mich um. Meine
Ausgangsposition ist nicht schlecht. Ich stehe am äußersten Rand, sodass ich
beim Signal sofort wegrennen und verschwinden kann. So entkomme ich dem
Gemetzel am Füllhorn, allerdings mit dem Nachteil, dass ich dann nichts
mitnehmen kann, das mir nützlich werden könnte. Sechzig Sekunden. Die anderen
Tribute stehen auf den runden Podesten zu meiner Linken in einer Reihe. Erstmal
weg von hier. Die Klamotten sind nicht so wichtig. Fürs erste. Fünfzig
Sekunden. Ich nehme die Umgebung in Augenschein. Es ist warm. Aber nicht so
warm wie in der Wüste. Wir stehen vor dem Füllhorn auf einer kreisrunden,
kahlen Fläche. Trockener Boden und Steine. Der Kreis ist umringt von
Trauerweiden. Hinter ihnen muss noch etwas sein, doch sie versperren die Sicht.
Ich muss noch warten, bis ich mir mehr Eindrücke von der Arena machen kann.
Aber dass es Bäume gibt ist ein Zeichen für ein wenig Schutz. Vierzig Sekunden.
Es wird Zeit, sich das Füllhorn anzusehen. Auch wenn ich jetzt nichts davon
mitnehmen werde, muss ich schauen, was es alles gibt, vor allem an Waffen um
die Gefahren abzuschätzen. Ich atme auf, denn ich sehe, dass es dieses Mal
nicht sehr viele verschiedene Waffen gibt. Ein paar Jagdmesser, einige
Schwerter und vier Bögen, deren Pfeilfedern eine jeweils andere Farbe haben,
nämlich blau, rot, grün und gelb. Die Bögen sind aus Metall, die Sehnen kaum zu
sehen. Ansonsten liegen überall Rucksäcke herum. In ihnen befinden sich
wahrscheinlich wichtige Dinge wie Proviant, Schlafsack und Wasserflaschen. Für
einen kurzen Moment ist die Vorstellung eines Rucksackes sehr verlockend, doch
ich halte mich eisern an meinen Plan. Dreißig Sekunden. Jetzt sehe ich die
Pferde. Es sind vier Stück, die neben dem Füllhorn stehen, gesattelt,
aufgezäumt und bereit. Für die Fortbewegung und Flucht sind sie purer Luxus.
Drei von ihnen sind stolze Rösser, halten die Nase in die Luft und wittern
bereits die Gefahr. Auch sie haben, wie die Bögen unterschiedliche Farben. Ein
Fuchs, ein Rappe und ein Brauner. Der Schimmel, das vierte Pferd sieht nicht so
gut aus wie die anderen. Vermutlich das Pferd, das ein schlechterer Tribut
abbekommen wird. Es ist nicht weiß, eher schmutzig grau, lässt den Kopf hängen
und besitzt eine struppige, lange Mähne. Zwanzig Sekunden. Soll ich mir eins
von den Pferden schnappen? Damit kann ich in kurzer Zeit viel Distanz hinter
mich bringen. Mein Blick trifft Cane und ich zucke zurück. Nein ich muss weiter
meinen Plan verfolgen wenn ich den ersten Tag überleben will. Zwanzig Sekunden.
Langsam gehen die Nerven mit mir durch. Ich möchte losrennen. Vor allen anderen
und das Weite suchen. Doch wenn ich vor dem Startschuss von meinem Podest gehe,
bin ich tot. Auf dem Boden sind Mienen, die erst entschärft werden, wenn der
Schuss ertönt. Zehn Sekunden. Ich denke wieder an zu Hause. An meine Mutter und
wie sie sich mit meinem Vater starr und
ängstlich den Start ansieht. Zum ersten Mal denke ich auch an meine Freundinnen
aus der Schule. Sicher sehen sie mich jetzt auch. Einige haben Angst, die
anderen sind wahrscheinlich nur froh, dass sie nicht an meiner Stelle sind. Ich
kann es ihnen nicht verübeln. Fünf Sekunden. KAWUMMMM! Ein kurzer Schrei und
einige Tribute werden mit den Überresten eines weiteren besprenkelt. Es war
Bounce, der Junge aus Distrikt 12 der die Nerven verloren hat. Die meisten
starren angewidert auf die blutigen Flecken auf ihrer Jacke, Mary steht heulend
wie ein Schlosshund auf ihrem Podest und zittert am ganzen Körper. Wie gerne
würde ich sie jetzt in die Arme schließen und hier rausholen. Bis auf ihr
lautes Schluchzen ist es still. Dann der Startschuss. Es bricht das Chaos aus,
das ich vermutet habe. Alle stürmen los, fallen übereinander her, hetzen zum
Füllhorn um die besten Dinge zu erhaschen. Die Pferde scharren nervös mit den Hufen
angesichts der wilden Meute die auf sie zukommt. Dem grauen wird es zu bunt. Es
flüchtet bereits in die Bäume. Ich springe von meinem Podest und sehe mich kurz
um, will gerade losrennen als ich Mary erblickte. Sie hat sich kein Stück
bewegt, steht wie angewachsen auf ihren Podest. Ich werfe bei dem Anblick alle
meine Pläne über den Haufen und renne quer über den Platz, denn sie steht ganz
weit am Rand auf der anderen Seite. Aus dem Augenwinkel sehe ich Cane und
Manou, wie sie sich die besten Waffen gekrallt haben und sich an ihr blutiges
Werk zu machen. Gleich zwei Tribute sehe ich zu Boden fallen, blutüberströmt,
so gut wie tot. Ich laufe durch die kläglichen Überreste von Bounce und höre
ein hässliches Knirschen, doch das ist mir egal. Ich sehe nur noch Mary. Ein
Pfeil saust knapp über meinen Kopf hinweg und ich ducke mich instinktiv. Jetzt
bin ich bei Mary, ich nehme ihre Hand und ziehe sie mit mir. Sie leistet kaum
Widerstand rennt neben mir her, umklammert meine Finger panisch. Wir rennen auf
die Bäume zu. Bis wir hinter den Blättern der Trauerweiden sind halte ich den
Atem an, doch niemand scheint uns zu verfolgen. Sie sind alle noch zu sehr
beschäftigt. Hinter der zweiten Blätterwand sehe ich endlich, was sich hinter
den Trauerweiden versteckt. Ein gigantisches Maisfeld. Kurz bleibe ich stehen
und versuche darüber hinweg zu sehen. Die Maispflanzen sind zu hoch. Für einen
Moment sehe ich Mary an. Sie wird nicht mehr viel länger rennen können, doch
nun höre ich die Schritte der anderen hinter mir. Ich umfasse ihre Hand fester
und ziehe sie hinein ins Maisfeld, laufe immer geradeaus in der Hoffnung
irgendwann ein Ende davon zu haben. Das Feld scheint endlos lang zu sein, wir
rennen sicher eine Minute lang, als das kleine Mädchen anfängt zu keuchen.
Unerbittlich ziehe ich sie weiter. Plötzlich lassen die Pflanzen nach, lichten
sich und ich sehe nun Bäume vor uns. Ein Wald. Was für ein Glück! Da das Feld
schon sehr groß ist, kann der Wald nicht mehr endlos riesig sein. Nach ungefähr
zwei kilometern, ist bestimmt schon der Zaun. Trotzdem renne ich mit Mary
hinein, blicke mich schnell um und finde den geeigneten Platz für sie. Auf
einem kleinen Felsen stehen riesige Sträucher. Sie sind so dicht, dass man
nicht hindurchgucken kann. Fest entschlossen, hebe ich das zierliche Mädchen
auf den Felsen und setze sie hinter einen Busch. „Jetzt musst du selbst
klarkommen.“, keuche ich und laufe weiter ohne mich noch einmal umzudrehen. Sie
tut mir Leid ja, aber ich kann nicht ihren Babysitter spielen. Nach ein paar
hundert Metern fühle ich mich sicher genug, langsamer zu werden und sich einen
Überblick verschaffen. Vom Füllhorn habe ich nichts mitgehen lassen. Was ich
dringend brauche, ist Wasser. Eine Quelle oder ein See, besser aber eine
Quelle, da das Wasser sauberer ist. Für Seewasser brauche ich Jodtropfen, um es
trinkbar zu machen. Doch die habe ich nicht. Zunächst sehe ich mich um, doch in
unmittelbarer Nähe scheint keine Quelle zu sein. Nach ein paar Minuten jedoch
höre ich ein hoffnungsvolles Plätschern. Ich folgte dem Geräusch und stehe
tatsächlich an einer Quelle, die einem Felsen entspringt. Das Wasser ist
kristallklar und angenehm kühl. Mir fällt auf, wie viel Glück ich heute schon
hatte. Erst habe ich einen Platz ganz am Rand des Starterfeldes bekommen.
Dieses Glück habe ich aber nicht genutzt, da ich quer über das Feld zu Mary
gerannt bin. Trotzdem hatte ich noch genug Glück um mit ihr durch das Feld zu
laufen und nicht verfolgt zu werden. Und jetzt habe ich diese Quelle gefunden.
Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich lächeln. Ich habe wirklich Glück. Den
restlichen Tag verbringe ich damit, essbare Beeren zu suchen, denn damit kenne
ich mich ein wenig damit aus. Zuhause im Distrikt gehe ich oft mit meiner
Mutter Beeren sammeln, nicht etwa weil wir uns anderes Essen nicht leisten
können, sondern weil es uns immer Spaß macht, sie zu suchen, festzustellen,
welche es waren und dabei fröhlich zu plaudern. Während des Sammelns stelle ich
mir vor, sie wäre jetzt hier, würde mir dabei helfen und mir den neuesten
Klatsch aus dem Distrikt erzählen, über den sie immer sofort bescheid weiß. Ich
beschließe, die Nacht in einem Gebüsch zu verbringen, das ähnlich dicht ist,
wie das hinter das ich Mary gesetzt habe. Ich finde sie selben Sträucher in der
Nähe der Quelle. Sie stehen so, dass man mich von keiner Seite sehen kann. Ich
setze mich zwischen sie und schließe sofort die Augen. Ich bin so müde, dass
ich gleich wegnicke. Geweckt werde ich allerdings von donnernden
Kanonenschüssen. Das heutige Gemetzel hat endlich ein Ende. Ich beginne zu
zählen, wie vermutlich alle Überlebenden. Vierzehn Schüsse. Der Kampf vor dem
Füllhorn muss gewaltig gewesen sein. Nach den Schüssen ertönt die Hymne und am
Himmel wird angezeigt, welche Tribute ihr Leben lassen mussten. Der Junge aus
Distrikt 1. Beide aus Distrikt 2. Das ist erstaunlich, da auch sie zu den
Karrieros zählen, die normalerweise bis weit zum Schluss durchhalten. Beide aus
Distrikt 3. Ich habe ihnen beim Training keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Jeweils beide Tribute aus Distrikt 6 und 7, ebenso wie die aus 8 und das
Mädchen aus 9. Auch aus Distrikt 11 hat es das Mädchen erwischt und aus
Distrikt 12 den Jungen Bounce. Es sind so viele, dass mir schlecht wird. Nur
zehn von vierundzwanzig Tributen haben den ersten Tag überstanden. Ich bin ein
wenig erleichtert, dass Mary noch lebt, auch wenn ich weiß, dass es nicht mehr
lange so bleiben wird. Geschockt bin ich darüber, mit welcher Brutalität Cane,
Manou, Tarlan und wahrscheinlich auch Michael vorgegangen sind. Sie sind noch
heftiger, als ich zunächst dachte.
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