Kapitel 4


Am nächsten Morgen werde ich von einem Geräusch wach, das nach Gefahr klingt. Ein Rascheln und Scharren, ganz in meiner Nähe. Sofort schrecke ich auf. Noch während ich aufstehe spüre ich den leichten Schwindel. Ich brauche Wasser, doch zuerst muss ich wissen, woher dieses Rascheln kommt. Die Ohren gespitzt, wage ich mich vorsichtig aus dem Gestrüpp hervor. Ich sehe keinen anderen Tribut, nur Bäume und ein wenig Laub. Langsam und so leise wie möglich folge ich dem Geräusch. Im selben Moment wird mir klar, dass der gestrige Tag nur der Anfang war. Ich bin nicht sicher. Rund um die Uhr muss ich mit der Angst rechnen, getötet zu werden. Die Erkenntnis kommt erst jetzt so richtig und ich schlucke. Egal was ich jetzt tue. Ob ich nach der Quelle des Geräusches sehe oder ob ich wegrenne. Es kann mir beides zum Verhängnis werden. Schließlich wage ich es und trete hinter einem Baum hervor. Als ich sehe, was mich erwartet, atme ich erleichtert auf. Entwarnung. Es ist nur das graue Pferd, das sich mit dem Zaumzeug im Gebüsch verfangen hat. Panisch versucht es, sich zu befreien, aber irgendwie gelingt es ihm nicht. Langsam, unendlich langsam gehe ich auf das Tier zu, es ist eine Stute sehe ich jetzt, und versuche beruhigend auf sie einzureden. Ich habe Angst, dass sie mich tritt, wenn ich zu nahe komme. Doch je näher ich an sie herangehe, desto ruhiger wird sie. Ich stehe nun neben ihr und kann das Zaumzeug ganz leicht aus dem Gebüsch holen. Es dauert einige Minuten, bis ich alles entwirrt habe, dann habe ich die Zügel in der hand und kann sie über den Hals werfen. „Du hast sicher Durst.“, sage ich, vielmehr zu mir selbst als zu der grauen Stute, und schon ziehe ich sie hinter mir her zur Quelle. Wie ich erwartet habe steckt sie die Nase ins Wasser und trinkt riesige Mengen. Auch ich trinke etwas, das leichte Schwindelgefühl verschwindet, doch Hunger habe ich immer noch. Die Beeren und Wurzeln die ich gestern fand, haben nicht sehr lange vorgehalten. Mir graut es davor zu jagen, doch auf Dauer werde ich vermutlich keine andere Wahl haben. Die Frage ist eigentlich nicht mehr ob ich jagen gehe, sondern wie. Ich betrachte das Ufer der Quelle. Viele spitze und scharfe Steine liegen hier. Ich nehme einen und schleife das Ende eines Astes so scharf, dass es mir als Speer dient. Als ich fertig bin, ist auch die Stute mit Trinken fertig. Ohne groß nachzudenken nenne ich sie in Gedanken Tara. Das scheint zu passen. Tara schüttelt ihre zerzauste Mähne und sieht mich an. Es ist nicht so, dass ich nicht reiten kann. Als ich noch kleiner war, habe ich mich immer auf die Ponys der Nachbarn gesetzt. Aber ich zweifle ernsthaft an ihrer Verfassung. Ihr Durst ist zwar gelöscht, doch sie sieht trotzdem mager, struppig und ungepflegt aus. So, als wäre sie uralt. Wahrscheinlich ist sie das auch. Sie in den Hungerspielen einzusetzen, wird vermutlich die Kosten für den Abdecker sparen. Ich schüttele den Kopf über so viel Kälte und nehme ihre Zügel. Mit der anderen Hand fahre ich unter ihren Schopf. Dort ist es angenehm warm. „Da hat sich wohl niemanden mehr um dich gekümmert.“, sage ich ihr, doch eigentlich rede ich nur, damit ich etwas sagen kann. Seit gestern habe ich bis auf ein oder zwei Sätze nicht mehr gesprochen. Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, dass die Hungerspiele so einsam werden können. Aber so ist es, wenn man als Einzelkämpfer unterwegs war. Cane, Manou, Tarlan und Michael haben sicher viel miteinander gesprochen, während sie die anderen Tribute abgeschlachtet und sich dann zusammengetan haben. „Los komm, wir suchen ein Stück Wiese für dich und ich werde jagen gehen.“ Entschlossen schwinge ich mich auf ihren schmalen Rücken in den Sattel. Ihr Schritt ist unbequem, sehr holperig und ich habe das Gefühl ihre Wirbelsäule durch das Leder des Sattels zu spüren. Gut, dass ich so klein und leicht bin.

Ich wage es tatsächlich aus dem Wald heraus zu reiten und im Maisfeld jagen zu gehen. Ich vermute, dass es dort viele Hasen gibt und mit etwas Glück werde ich einen erwischen. Vor dem Feld liegt sogar ein saftiger Grasstreifen, wo ich Tara stehen lasse. Sie senkt sofort den Kopf nach unten und beginnt zu fressen. Ich hoffe, dass sie nicht weg ist, wenn ich fertig bin. Mir gefällt die Vorstellung eine Gefährtin zu haben, der ich vertrauen kann. Hätte ich einen meiner Mitstreiter bei mir, müsste ich Angst haben, dass er mich tötet. Noch ein letzter Blick nach hinten, auf den sicheren Wald, dann gehe ich ins Feld. Erst einmal geradeaus. Ein paar Maispflanzen liegen schon zertrampelt auf dem Boden an einer klebt getrocknetes Blut. Bis hier hin haben sie die anderen also gestern verfolgt. Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Ich gehe um eine große Maispflanze herum und erstarre. Knapp fünfzig Zentimeter vor meiner Nase, hängt genau auf Augenhöhe, eine riesige, schwarz-rote Spinne. Sie ist größer als meine Hand mit gespreizten Fingern. Ängstlich stolpere ich zurück in ein Spinnennetz hinein. Ich schreie auf, ohne daran zu denken, dass ich mich damit verraten könnte. Hektisch sehe ich an mir herunter, auch am Rücken doch dort sitzt keine weitere Spinne. Es scheint ein leeres Netz gewesen zu sein. Ich starre wieder auf die vor mir. Sie bewegt sich kein Stück. Eigentlich sieht sie schön aus. Das rot und schwarz auf ihrem glatten, haarlosen Körper scheint ineinander zu laufen. Die Beine lang und pechschwarz, sie schimmern im Licht. Ich kenne diese Art von Spinnen aus meinem Distrikt. Bei uns hausen sie oft auf dem Dachboden oder hängen in ihren Netzen am großen Elektrozaun. Ich frage mich immer, weshalb sie keinen Stromschlag bekommen. Wenn eine von ihnen einen Menschen beißt, ist dies für ihn nicht tödlich. Nur sehr schmerzhaft und es verlangsamt für einige Minuten die Reaktionen, da das Gift eine lähmende Wirkung hat. Doch wird man von mehreren gleichzeitig oder in kurzen Abständen Gebissen, kann es tödlich werden, da mehr Gift auch eine höhere Lähmung hervorruft, sodass irgendwann das Herz stehen bleibt. Normalerweise sind diese Spinnen recht friedlich und beißen nur, wenn sie sich eingeengt fühlen. Mein Vater hat im Sommer oft welche auf dem Arm und bringt sie nah draußen, wenn sie sich mal wieder auf dem Dachboden verirrt haben. Dennoch traue ich den Spielmachern nicht. Niemand weiß, was sie mit den Tieren angestellt haben.

Ich mache einen großen Bogen um das Netz und gehe weiter. Nacheinigen Metern sehe ich bereits den ersten Hasen. Ohne zu zögern werfe ich meinen Speer nach ihm, doch bevor er ankommt ist der Hase schon um die Ecke geflitzt. Ich versuche es noch ein paar Mal, schließlich laufen hier viele Hasen herum, doch ich schaffe es nie. Ich habe noch nie gejagt. Ich habe in so vielen Dingen, die ich für diese Spiele bräuchte keine Erfahrung und trotzdem sind mehr als die Hälfte vor mir gestorben. Wenn es tatsächlich einen Gott geben sollte, muss er mich lieben. Meine ungeschickten Jagdversuche werden mir langsam peinlich. Ich habe fast vergessen, dass ich gerade im Fernsehen bin. Eine so ungeschickte Jägerin, die muss man doch zeigen, damit sich ganz Panem über sie lustig machen kann. „Lacht ihr nur.“, murmele ich böse. „Ihr wärt alle genauso aufgeschmissen.“
Es raschelt in den Maispflanzen und ein weiterer Hase hüpft heraus. Wütend werfe ich den Holzspeer nach  ihm und bin überrascht, dass ich getroffen habe. Der Hase ist auf der Stelle gestorben. Als ich ihn aufhebe, sehe ich auch warum es für mich so ein leichtes Spiel war. In seinem Schenkel steckt ein abgebrochener Pfeil. Er wurde bereits getroffen, von einem anderen Jäger. Die Wunde sieht frisch aus. Ich begreife, was das bedeuten muss. Er ist noch in der Nähe! Panisch sehe ich mich um. Zuerst höre ich einen Kanonenschuss. Dann höre ich Pflanzen knacken. Und Canes Stimme. Mein Herz setzt aus. Ich drehe mich auf dem Absatz um und fliehe vor seiner Stimme, weiter ins Feld. Ohne nachzudenken setze ich einen Fuß vor den anderen. Plötzlich stolpere ich über etwas. Ich stehe wieder auf sehe nach unten. Einen Aufschrei wie den bei der Spinne kann ich zum Glück unterdrücken. Jetzt wo Cane und seine Truppe in der Nähe sind ist es mehr als verräterisch. Auf dem Boden liegt der Junge aus Distrikt 9. Seine Kleidung hat viele Löcher, seine Haut ist mit riesigen, roten Beulen übersäht. Einige Meter von ihm entfernt liegt sein Rucksack. Ich renne hin und schnappe ihn mir. Dann knackt es plötzlich hinter mir im Gebüsch. Die Maispflanzen teilen sich und Tarlan rennt auf mich zu. Hinter alldem müssen die Spielmacher stecken. Sie haben gesehen, dass ich im Feld jagen gehe, und sie haben mir diese Kerle auf den Hals gehetzt. Sie wollen, dass ich sterbe. Tarlan rennt mir entgegen ein Messer in der Hand. Ich unternehme keinen Versuch wegzulaufen. Er wird es gleich nach mir werfen. Doch stattdessen, fuchtelt er damit herum und brüllt mir etwas entgegen, das ich nicht verstehe. Er kommt immer näher und nun höre ich es deutlich. „Lauf! Lauf weg! Los!“ Ich hör Panik aus seiner Stimme. Etwas scheint ihn zu verfolgen. Dann höre ich sie. Ein bedrohliches, wütendes Brummen und Summen ist hinter Tarlan her. Und ich begreife. Jägerwespen! „Was stehst du da? Lauf weg!“, schreit Tarlan, der nun fast bei mir ist. Ich renne los, in die Richtung von der ich glaube, dass sie aus dem Feld herausführt. Für einen Moment denke ich an Cane, an Manou und an Michael. Ob die Wespen sie erwischen werden? Oder laufe ich ihnen in die Arme? Weil Tarlan mich geradewegs hinein treibt? Ich werde langsamer. Sofort höre ich seine Stimme. „Sei nicht dumm! Raus hier!“ und er schiebt mich quasi vor sich her. Wir erreichen das Ende des Feldes. Ich sehe mich kurz um. Etwa hundert Meter weiter steht noch immer Tara und frisst. Ich renne nach rechts und nehme wahr, dass Tarlan nach links läuft. Er war wohl tatsächlich nicht hinter mir her. Ich erreiche Tara, ziehe mit den Zügeln ihren Kopf hoch und springe fast in den Sattel. Der tote Hase baumelt in meiner Hand hin und her. Als Tara das Brummen wahrnimmt, das noch immer hinter mir her ist galoppiert sie auch schon an. Ich stelle mich in die Steigbügel und schnalze mit der Zunge. Sie fetzt in den Wald hinein und bei der Geschwindigkeit wird mir fast übel. Es sind die unscheinbaren, die euch im Dunkeln den Hals umdrehen! Lizzys Stimme schwebt in meinem Kopf. Das hat sie nicht nur zu meinem Nachteil gesagt. Tara sieht fürchterlich aus. Aber sie ist schnell. Extrem schnell. Offenbar wollten die Spielmacher uns auf eine falsche Fährte locken. Sicherlich haben sich die schnellsten auch auf die besser aussehenden Pferde fixiert. Ich schätze, dass Tara das schnellste von ihnen ist. Wenn die Jägerwespen nicht hinter uns her wären, würde ich wieder lachen und mich über mein Glück freuen. Nach einigen Minuten höre ich die Wespen nicht mehr, sondern nur noch Taras erschöpftes Schnaufen. Ihre Flanken zittern, trotzdem rennt sie weiter. Ich ziehe die Zügel an und sehe mich um. Der Wald ist still. Keine Wespen mehr. Etwas unsicher lasse ich mich von ihrem Rücken gleiten. Sofort löse ich den Sattel und ziehe ihn herunter. Damit sie vernünftig atmen kann. Im selben Moment ertönen zwei weitere Kanonenschüsse. Ich schaue in den Himmel. Ein Hovercraft erscheint, um die insgesamt drei Leichen abzuholen.

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