Am nächsten Morgen werde
ich von einem Geräusch wach, das nach Gefahr klingt. Ein Rascheln und Scharren,
ganz in meiner Nähe. Sofort schrecke ich auf. Noch während ich aufstehe spüre
ich den leichten Schwindel. Ich brauche Wasser, doch zuerst muss ich wissen,
woher dieses Rascheln kommt. Die Ohren gespitzt, wage ich mich vorsichtig aus
dem Gestrüpp hervor. Ich sehe keinen anderen Tribut, nur Bäume und ein wenig
Laub. Langsam und so leise wie möglich folge ich dem Geräusch. Im selben Moment
wird mir klar, dass der gestrige Tag nur der Anfang war. Ich bin nicht sicher.
Rund um die Uhr muss ich mit der Angst rechnen, getötet zu werden. Die
Erkenntnis kommt erst jetzt so richtig und ich schlucke. Egal was ich jetzt
tue. Ob ich nach der Quelle des Geräusches sehe oder ob ich wegrenne. Es kann
mir beides zum Verhängnis werden. Schließlich wage ich es und trete hinter
einem Baum hervor. Als ich sehe, was mich erwartet, atme ich erleichtert auf.
Entwarnung. Es ist nur das graue Pferd, das sich mit dem Zaumzeug im Gebüsch
verfangen hat. Panisch versucht es, sich zu befreien, aber irgendwie gelingt es
ihm nicht. Langsam, unendlich langsam gehe ich auf das Tier zu, es ist eine
Stute sehe ich jetzt, und versuche beruhigend auf sie einzureden. Ich habe
Angst, dass sie mich tritt, wenn ich zu nahe komme. Doch je näher ich an sie
herangehe, desto ruhiger wird sie. Ich stehe nun neben ihr und kann das
Zaumzeug ganz leicht aus dem Gebüsch holen. Es dauert einige Minuten, bis ich
alles entwirrt habe, dann habe ich die Zügel in der hand und kann sie über den
Hals werfen. „Du hast sicher Durst.“, sage ich, vielmehr zu mir selbst als zu
der grauen Stute, und schon ziehe ich sie hinter mir her zur Quelle. Wie ich
erwartet habe steckt sie die Nase ins Wasser und trinkt riesige Mengen. Auch
ich trinke etwas, das leichte Schwindelgefühl verschwindet, doch Hunger habe
ich immer noch. Die Beeren und Wurzeln die ich gestern fand, haben nicht sehr
lange vorgehalten. Mir graut es davor zu jagen, doch auf Dauer werde ich
vermutlich keine andere Wahl haben. Die Frage ist eigentlich nicht mehr ob ich
jagen gehe, sondern wie. Ich betrachte das Ufer der Quelle. Viele spitze und
scharfe Steine liegen hier. Ich nehme einen und schleife das Ende eines Astes
so scharf, dass es mir als Speer dient. Als ich fertig bin, ist auch die Stute
mit Trinken fertig. Ohne groß nachzudenken nenne ich sie in Gedanken Tara. Das
scheint zu passen. Tara schüttelt ihre zerzauste Mähne und sieht mich an. Es
ist nicht so, dass ich nicht reiten kann. Als ich noch kleiner war, habe ich
mich immer auf die Ponys der Nachbarn gesetzt. Aber ich zweifle ernsthaft an
ihrer Verfassung. Ihr Durst ist zwar gelöscht, doch sie sieht trotzdem mager,
struppig und ungepflegt aus. So, als wäre sie uralt. Wahrscheinlich ist sie das
auch. Sie in den Hungerspielen einzusetzen, wird vermutlich die Kosten für den
Abdecker sparen. Ich schüttele den Kopf über so viel Kälte und nehme ihre
Zügel. Mit der anderen Hand fahre ich unter ihren Schopf. Dort ist es angenehm
warm. „Da hat sich wohl niemanden mehr um dich gekümmert.“, sage ich ihr, doch
eigentlich rede ich nur, damit ich etwas sagen kann. Seit gestern habe ich bis
auf ein oder zwei Sätze nicht mehr gesprochen. Ich habe wirklich nicht damit
gerechnet, dass die Hungerspiele so einsam werden können. Aber so ist es, wenn
man als Einzelkämpfer unterwegs war. Cane, Manou, Tarlan und Michael haben
sicher viel miteinander gesprochen, während sie die anderen Tribute
abgeschlachtet und sich dann zusammengetan haben. „Los komm, wir suchen ein
Stück Wiese für dich und ich werde jagen gehen.“ Entschlossen schwinge ich mich
auf ihren schmalen Rücken in den Sattel. Ihr Schritt ist unbequem, sehr
holperig und ich habe das Gefühl ihre Wirbelsäule durch das Leder des Sattels
zu spüren. Gut, dass ich so klein und leicht bin.
Ich wage es tatsächlich
aus dem Wald heraus zu reiten und im Maisfeld jagen zu gehen. Ich vermute, dass
es dort viele Hasen gibt und mit etwas Glück werde ich einen erwischen. Vor dem
Feld liegt sogar ein saftiger Grasstreifen, wo ich Tara stehen lasse. Sie senkt
sofort den Kopf nach unten und beginnt zu fressen. Ich hoffe, dass sie nicht
weg ist, wenn ich fertig bin. Mir gefällt die Vorstellung eine Gefährtin zu
haben, der ich vertrauen kann. Hätte ich einen meiner Mitstreiter bei mir,
müsste ich Angst haben, dass er mich tötet. Noch ein letzter Blick nach hinten,
auf den sicheren Wald, dann gehe ich ins Feld. Erst einmal geradeaus. Ein paar
Maispflanzen liegen schon zertrampelt auf dem Boden an einer klebt getrocknetes
Blut. Bis hier hin haben sie die anderen also gestern verfolgt. Mir läuft es
kalt den Rücken herunter. Ich gehe um eine große Maispflanze herum und
erstarre. Knapp fünfzig Zentimeter vor meiner Nase, hängt genau auf Augenhöhe,
eine riesige, schwarz-rote Spinne. Sie ist größer als meine Hand mit
gespreizten Fingern. Ängstlich stolpere ich zurück in ein Spinnennetz hinein.
Ich schreie auf, ohne daran zu denken, dass ich mich damit verraten könnte.
Hektisch sehe ich an mir herunter, auch am Rücken doch dort sitzt keine weitere
Spinne. Es scheint ein leeres Netz gewesen zu sein. Ich starre wieder auf die
vor mir. Sie bewegt sich kein Stück. Eigentlich sieht sie schön aus. Das rot
und schwarz auf ihrem glatten, haarlosen Körper scheint ineinander zu laufen.
Die Beine lang und pechschwarz, sie schimmern im Licht. Ich kenne diese Art von
Spinnen aus meinem Distrikt. Bei uns hausen sie oft auf dem Dachboden oder
hängen in ihren Netzen am großen Elektrozaun. Ich frage mich immer, weshalb sie
keinen Stromschlag bekommen. Wenn eine von ihnen einen Menschen beißt, ist dies
für ihn nicht tödlich. Nur sehr schmerzhaft und es verlangsamt für einige
Minuten die Reaktionen, da das Gift eine lähmende Wirkung hat. Doch wird man
von mehreren gleichzeitig oder in kurzen Abständen Gebissen, kann es tödlich
werden, da mehr Gift auch eine höhere Lähmung hervorruft, sodass irgendwann das
Herz stehen bleibt. Normalerweise sind diese Spinnen recht friedlich und beißen
nur, wenn sie sich eingeengt fühlen. Mein Vater hat im Sommer oft welche auf
dem Arm und bringt sie nah draußen, wenn sie sich mal wieder auf dem Dachboden
verirrt haben. Dennoch traue ich den Spielmachern nicht. Niemand weiß, was sie
mit den Tieren angestellt haben.
Ich mache einen großen
Bogen um das Netz und gehe weiter. Nacheinigen Metern sehe ich bereits den
ersten Hasen. Ohne zu zögern werfe ich meinen Speer nach ihm, doch bevor er
ankommt ist der Hase schon um die Ecke geflitzt. Ich versuche es noch ein paar
Mal, schließlich laufen hier viele Hasen herum, doch ich schaffe es nie. Ich
habe noch nie gejagt. Ich habe in so vielen Dingen, die ich für diese Spiele
bräuchte keine Erfahrung und trotzdem sind mehr als die Hälfte vor mir
gestorben. Wenn es tatsächlich einen Gott geben sollte, muss er mich lieben.
Meine ungeschickten Jagdversuche werden mir langsam peinlich. Ich habe fast
vergessen, dass ich gerade im Fernsehen bin. Eine so ungeschickte Jägerin, die
muss man doch zeigen, damit sich ganz Panem über sie lustig machen kann. „Lacht
ihr nur.“, murmele ich böse. „Ihr wärt alle genauso aufgeschmissen.“
Es raschelt in den
Maispflanzen und ein weiterer Hase hüpft heraus. Wütend werfe ich den Holzspeer
nach ihm und bin überrascht, dass ich
getroffen habe. Der Hase ist auf der Stelle gestorben. Als ich ihn aufhebe,
sehe ich auch warum es für mich so ein leichtes Spiel war. In seinem Schenkel
steckt ein abgebrochener Pfeil. Er wurde bereits getroffen, von einem anderen
Jäger. Die Wunde sieht frisch aus. Ich begreife, was das bedeuten muss. Er ist noch in der Nähe! Panisch sehe
ich mich um. Zuerst höre ich einen Kanonenschuss. Dann höre ich Pflanzen
knacken. Und Canes Stimme. Mein Herz setzt aus. Ich drehe mich auf dem Absatz
um und fliehe vor seiner Stimme, weiter ins Feld. Ohne nachzudenken setze ich
einen Fuß vor den anderen. Plötzlich stolpere ich über etwas. Ich stehe wieder
auf sehe nach unten. Einen Aufschrei wie den bei der Spinne kann ich zum Glück
unterdrücken. Jetzt wo Cane und seine Truppe in der Nähe sind ist es mehr als
verräterisch. Auf dem Boden liegt der Junge aus Distrikt 9. Seine Kleidung hat
viele Löcher, seine Haut ist mit riesigen, roten Beulen übersäht. Einige Meter
von ihm entfernt liegt sein Rucksack. Ich renne hin und schnappe ihn mir. Dann
knackt es plötzlich hinter mir im Gebüsch. Die Maispflanzen teilen sich und
Tarlan rennt auf mich zu. Hinter alldem müssen die Spielmacher stecken. Sie
haben gesehen, dass ich im Feld jagen gehe, und sie haben mir diese Kerle auf
den Hals gehetzt. Sie wollen, dass ich sterbe. Tarlan rennt mir entgegen ein
Messer in der Hand. Ich unternehme keinen Versuch wegzulaufen. Er wird es
gleich nach mir werfen. Doch stattdessen, fuchtelt er damit herum und brüllt mir
etwas entgegen, das ich nicht verstehe. Er kommt immer näher und nun höre ich
es deutlich. „Lauf! Lauf weg! Los!“ Ich hör Panik aus seiner Stimme. Etwas
scheint ihn zu verfolgen. Dann höre ich sie. Ein bedrohliches, wütendes Brummen
und Summen ist hinter Tarlan her. Und ich begreife. Jägerwespen! „Was stehst du da? Lauf weg!“, schreit Tarlan, der nun
fast bei mir ist. Ich renne los, in die Richtung von der ich glaube, dass sie
aus dem Feld herausführt. Für einen Moment denke ich an Cane, an Manou und an Michael.
Ob die Wespen sie erwischen werden? Oder laufe ich ihnen in die Arme? Weil
Tarlan mich geradewegs hinein treibt? Ich werde langsamer. Sofort höre ich
seine Stimme. „Sei nicht dumm! Raus hier!“ und er schiebt mich quasi vor sich
her. Wir erreichen das Ende des Feldes. Ich sehe mich kurz um. Etwa hundert
Meter weiter steht noch immer Tara und frisst. Ich renne nach rechts und nehme
wahr, dass Tarlan nach links läuft. Er war wohl tatsächlich nicht hinter mir
her. Ich erreiche Tara, ziehe mit den Zügeln ihren Kopf hoch und springe fast
in den Sattel. Der tote Hase baumelt in meiner Hand hin und her. Als Tara das
Brummen wahrnimmt, das noch immer hinter mir her ist galoppiert sie auch schon
an. Ich stelle mich in die Steigbügel und schnalze mit der Zunge. Sie fetzt in
den Wald hinein und bei der Geschwindigkeit wird mir fast übel. Es sind die unscheinbaren, die euch im
Dunkeln den Hals umdrehen! Lizzys Stimme schwebt in meinem Kopf. Das hat
sie nicht nur zu meinem Nachteil gesagt. Tara sieht fürchterlich aus. Aber sie
ist schnell. Extrem schnell. Offenbar wollten die Spielmacher uns auf eine
falsche Fährte locken. Sicherlich haben sich die schnellsten auch auf die
besser aussehenden Pferde fixiert. Ich schätze, dass Tara das schnellste von
ihnen ist. Wenn die Jägerwespen nicht hinter uns her wären, würde ich wieder
lachen und mich über mein Glück freuen. Nach einigen Minuten höre ich die
Wespen nicht mehr, sondern nur noch Taras erschöpftes Schnaufen. Ihre Flanken
zittern, trotzdem rennt sie weiter. Ich ziehe die Zügel an und sehe mich um.
Der Wald ist still. Keine Wespen mehr. Etwas unsicher lasse ich mich von ihrem
Rücken gleiten. Sofort löse ich den Sattel und ziehe ihn herunter. Damit sie
vernünftig atmen kann. Im selben Moment ertönen zwei weitere Kanonenschüsse.
Ich schaue in den Himmel. Ein Hovercraft erscheint, um die insgesamt drei
Leichen abzuholen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen