Ich habe mir Tarlans
Messer eingesteckt. Für alle Fälle. Ich bin auf dem Weg zum Füllhorn und kämpfe
mich durch die Maispflanzen. Ich habe das Gefühl, dass sie irgendwie dichter
geworden sind. Der anhaltende Regen macht sie zudem auch noch schwerer. Meine
Sicht trübt er auch. Das ständige Prasseln überdeckt alle anderen Geräusche,
sodass ich mich ständig nervös umsehe, ob Manou nicht hinter mir ist. Doch ich sehe ihn nicht. Das
Füllhorn scheint mir die einzige Lösung zu sein. Oft wird dort der letzte Kampf
ausgeführt, sodass ich mich irgendwie berufen fühle, mich an diese Tradition zu
halten. Es fühlt sich an, als wäre ich das Schaf, das zur Schlachtbank geführt
wird. Dort werde ich warten, bis der Schlachter aus dem Maisfeld auftaucht.
Am Füllhorn angekommen
klettere ich auf die Spitze. Es ist nicht leicht, das Metall ist glatt und
extrem rutschig vom Regen, doch ich schaffe es, nach einiger Anstrengung. Die
Sonne geht schon auf, erscheint blutrot am Horizont. Etwa eine Minute später
erklingt eine Stimme, die in der ganzen Arena zu hören sein wird. Ich habe sie
noch nie wirklich gehört, nur im Fernsehen, bei den anderen Hungerspielen. Es
ist der Oberspielmacher. Grimwood Templesmith.
„Liebe Tribute!“, schallt es über den Platz, es übertönt sogar den
Regen.
„Ich gratuliere euch, es bis hierhin geschafft zu
haben. Um einen endgültigen Sieger zu ermitteln bitte ich euch, diese
Hungerspiele am Füllhorn zu beenden. Die Tributin aus Distrikt 5 ist bereits
dort. Möge das Glück stets mit euch sein.“ Die Stimme verschwindet genauso plötzlich wie sie erschienen ist. Ich
beginne wieder zu zittern. Manou weiß es jetzt. Er weiß dass ich hier bin. Ich
denke an Tarlan und bitte ihn stumm, mir zu verzeihen. Seinen Ratschlag, mich
herauszuhalten und warten, bis sich alles erledigt, befolge ich hier überhaupt
nicht. Aber ich kann nicht mehr. Ich will es endlich zu Ende bringen und wenn
ich dabei sterbe, ist es wenigstens vorbei.
Der Regen wird weniger,
doch das Tropfen scheint genauso laut zu sein. Ich höre Maispflanzen krachen.
Manou wird kommen. Ich starre auf die Trauerweiden ringsherum und erwarte ihn
jeden Moment. Erst ist es still. Dann kommt er plötzlich durch die dichten
Blätter gestürmt und rennt auf das Füllhorn zu. Er sieht jedoch nicht wütend
oder entschlossen aus, vielmehr panisch. Nur einen kurzen Augenblick später
begreife ich, was das Geräusch der Regentropfen verursacht. Es sind keine
Tropfen. Es sind viele Beine. Spinnenbeine. Es sind mit Sicherheit zwanzig
dieser schwarz roten Spinnen hinter Manou her. Da sie normalerweise nicht sehr
aggressiv sind, gehe ich davon aus, dass die Spielmacher sie manipuliert haben.
Es ist kein Geheimnis, dass sie immer zum Finale hin in die Psyche gefährlicher
Tiere eingreifen, damit es noch spannender wird. Man munkelt sogar, dass sie
demnächst ganz neue, viel gefährlichere Tiere in die Arena hineinproduzieren
können.
Manou hat mit dem nassen Metall
des Füllhorns ebenfalls seine Probleme. Es wird verdammt knapp für ihn.
Ohne nachzudenken reiche ich ihm die Hand.
Schwerer Fehler. Er grinst und zieht mich mit einer kurzen Handbewegung vom
Füllhorn herunter, während er hinaufsteigt. Nun stehe ich da und habe keine Zeit,
mich darüber aufzuregen, es ihm so einfach gemacht zu haben. Ich greife nach
den großen Steinen die auf dem Boden liegen und beginne, die sich rasch
nähernden Spinnen zu bewerfen. Zwei treffe ich so sehr, dass sie sich nicht
mehr bewegen können. Den Moment nutze
ich zur Flucht, denn im Kopf entsteht bereits ein Plan. Ich renne so schnell
ich kann zu einer der Trauerweiden. Noch während ich zwischen den Blättern
verschwinde, höre ich, wie Manou anfängt, eine Spinne nach der anderen zu
töten. Wenn er sie mit der Geschwindigkeit erledigt, nach der es sich anhört,
dann bleibt mir nicht viel Zeit. Ich schaue unauffällig zwischen den Blättern
hindurch und sehe zwei Dinge, die mich ein wenig frohlocken lassen. Keine der
Spinnen ist mir gefolgt und Manou ist so sehr mit ihnen beschäftigt, dass er
mich gar nicht beachten kann. Schnell wechsle ich die Trauerweide, gehe zur
nächsten und verstecke mich dort zwischen den Blättern. Ich hoffe, dass Manou
sich gemerkt hat, in welcher ich zuerst verschwunden bin. Einige Minuten später
sind die Kampfgeräusche verschwunden. Er scheint alle Spinnen erledigt zu
haben. Die aufsteigende Sonne wird immer heller und taucht den kompletten
Schauplatz in ein dramatisches blutrot. Im Fernsehen muss es beeindruckend
aussehen. Ich bin allerdings weniger beeindruckt. Mein Herz schlägt bis zum
Hals und ich bekomme Panik, dass mein Plan nicht aufgeht. Ich war mir so sicher und jetzt, wo ich hier
stehe und auf Manou warte, rutscht mir das Herz in die Hose. Am liebsten würde
ich jetzt die Augen zumachen, mich woanders hinwünschen und beim Öffnen der
Augen wirklich dort sein. Der Schatten meines Gegners dringt durch die Blätter
zu mir durch, genau wie ich es geplant habe. So kann ich sehen, wann er vor
meiner Trauerweide steht. Also jetzt. Ich atme tief durch, halte den scharfen
Stein fest in der Hand und stürme durch die Blätter.
Auf der anderen Seite
angekommen, würde ich am liebsten laut aufschreien. Das darf einfach nicht wahr
sein. Manou steht noch fünf Meter von mir entfernt, mein Überraschungsangriff
ist nun keiner mehr. Er sieht mich und lacht spöttisch.
„Da sind wohl einem die Nerven
durchgegangen was?“
Ich renne los, doch er
holt mich bald ein und wirft mich zu Boden. Hart pralle ich auf und muss
zugleich noch den Druck seiner Hände an meinen Oberarmen ertragen. Er drückt so
fest zu, als wollte er mir beide Arme brechen. Sein Spott trieft fast in mein
Gesicht. „Schade. Wirklich Schade. Dein Plan hätte so gut funktioniert.
Bedauerlich, dass die Sonne der Spielmacher den Schatten verzieht.“ Er nimmt
meinen Stein. Ich versuche mich aus seinem Griff zu befreien, doch er ist
einfach zu stark. Es ist genau das, an das ich schon vor den Spielen die ganze
Zeit gedacht habe. Ich habe keine Chance. Manou hebt den Stein und in diesem
Moment ist es, als explodierten tausende von kleinen Granaten in meinem
Inneren. Die Todesangst war in den letzten Tagen, in den kompletten Spielen, in
meinem ganzen Leben noch nie so intensiv gewesen.
Es scheint etwas mit mir
zu machen. Die Angst gibt mir Kraft. Irgendwie. Plötzlich winde ich mich. Ich
beginne mich zu wehren und, wenn auch nur geringen, Erfolg zu haben. Er ist so
überrascht, dass er kurz einen meiner Arme loslässt und ich ihm den scharfen
Stein aus der Hand schlagen kann. Gerade, als er die Hände an meinen Kopf legen
will um mir das Genick zu brechen, hält er inne und schreit auf. Erschrocken
schubse ich ihn von mir weg und er fällt von mir herunter. Sofort spüre ich
Erleichterung. Eine schwarz rote Spinne krabbelt von ihm weg, eine, die er wohl
nicht ganz getötet hat. Ich realisiere nur sehr langsam, was passiert ist. Sie
hat ihn gebissen. Deshalb ist er kurzzeitig eingeschränkt in seinen Bewegungen
und hat starke Schmerzen. Schnell rappele ich mich auf und blicke mich nach dem
scharfen Stein um. Er ist weit weg geflogen. So schnell wie es nur irgendwie
geht renne ich hinüber, greife ihn, Manou steht gerade auf, noch etwas
benommen, ich renne, renne auf ihn zu, springe ihm entgegen, reiße ihn wieder
zu Boden und hacke mit dem Stein auf seinen Kopf ein. Immer und immer wieder
schlage ich die spitze Seite dagegen, auch als er schon lange tot ist, kann ich
nicht aufhören, es ist wie ein Wahn. Blut bedeckt meine Hände, fließt über meine Finger hinweg, tropft auf den Boden
und ich habe immer noch Angst, dass er aufstehen und mich töten konnte. Es
dauert lange, bis ich begreife, dass er mich niemals töten wird, weil ich
nämlich ihn getötet habe. Ich lasse von ihm ab. Bin erschrocken, wie ich seinen
Kopf zugerichtet habe und habe sofort ein schlechtes Gewissen. Eine solche
Hinrichtung hat er sicher nicht verdient. Auch wenn er es in den Spielen oft so
getan hat. Er wollte auch nur sein Überleben sichern. Es ist wie, alle immer
sagen: Die Spiele verändern jeden.
„Ladies and Gentlemen! Ich verkünde Ihnen hiermit die Siegerin der
dreiundfünfzigsten Hungerspiele: Quinn Landerson!“
Die Hymne ertönt, ein
Hovercraft holt mich und die Leiche von Manou ab, doch das alles passiert für
mich wie hinter einem Schleier. Es ist nicht wirklich.
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