Geweckt werde ich von
einem Kanonenschuss. Erschrocken fahre ich zusammen und falle beinahe vom Baum.
Tarlan hält mich fest und legt eine Hand über meinen Mund, damit ich keinen
Laut von mir gebe. Das erste, was ich tue, ist mir an die Wange zu fassen. Die
Salbe hat die Wunde fast ganz verschlossen.
Es ist dunkel. Mitten in
der Nacht. Trotzdem kann man Umrisse erkennen. Gebannt schaue ich von oben
herab auf das, was sich unter den Ästen abspielt, auf denen wir sitzen.
„Hey, Leute kommt schon.
Das könnt ihr nicht machen.“ Michaels Stimme klingt drei Oktaven höher als
sonst. Er hat Angst. Ich sehe im Dunkeln die Umrisse der drei Gestalten und den
einer vierten, die auf dem Boden liegt. Das Mädchen aus Distrikt 4. Ihr galt
der Kanonenschuss. Vor meinem Distriktpartner stehen Manou und Cane, beide mit
Messern in der Hand.
„Wir müssen Michael. Es
tut uns Leid, aber irgendjemand muss das Ding ja gewinnen.“ Canes kalte,
aalglatte Stimme geht tief in Mark und Bein. Ich schaudere. Es klingt überhaupt
nicht so als täte es ihm leid.
„Wir waren doch ein Team.“
Michaels Stimme klingt wirklich verzweifelt. Ich werde langsam richtig wach und
begreife, dass sie im Begriff sind, ihn umzubringen.
„Die wollen ne gute Show
man. Keine Teams die am Ende betteln, damit sie zusammen hier raus kommen.“
Manous Stimme ist rauchig, tief und weitaus bedrohlicher als er wirkt. Ich sehe
wie einer der beiden auf Michael zuspringt, höre ihn schreien und drückte mich
instinktiv an Tarlan heran, der sich lautlos vor mich gesetzt hat. Er drückt
meinen Kopf in seine Jacke, ich schließe die Augen, er legt beide Hände auf
meine Ohren, doch die Schreie höre ich trotzdem, wenn auch etwas gedämpft.
Während ich warte, bis das Grauen unter mir vorbei ist konzentriere mich auf
meinen Atem. Nehme ganz bewusst Tarlans fremden Geruch war. Nach einer gewissen
Zeit, dir mir endlos lang vorkommt, nimmt er die Hände von meinen Ohren und hebt
meinen Kopf aus seiner Jacke. Wieder dieser schreckliche Kanonenschuss.
„Es ist vorbei.“, sagt er
leise, steht auf und balanciert auf dem Ast, auf dem wir sind zum nächsten, um
sein Schwert und den Bogen zu holen. „Wir müssen hier weg. Das Hovercraft kommt
gleich um die Leichen mitzunehmen.“ Ich sage nichts, sondern helfe ihm, ein
paar Dinge zu packen. Fast lautlos lassen wir uns den Baum hinunter rutschen.
Wir haben beide die letzten Reste des Wildschweins in der Hand. Als ich an
Michaels Leiche vorbeigehe und das Mondlicht auf sein Gesicht schimmert muss
ich würgen und spucke das Stück Fleisch in meinem Mund wieder aus. „Sie… Sie
haben ihm die Augen ausgestochen.“ Tarlan sieht auf sein Gesicht. „Das habe ich
mir schon gedacht. Verdammte Publikumslieblinge! Die wollten nur eine Show
abziehen.“ „Wie Manou gesagt hat…“, sage ich leise. „Ja, wie er gesagt hat.“,
erwidert er wütend. „Er hätte ihm einfach nur die Kehle durchschneiden können.“
Er zieht mich weiter, denn durch die Bäume kündigt sich das Hovercraft bereits
an. Nach einigen hundert Metern bleibt er vor mir stehen, sieht hinunter in
meine Augen. „Quinn, hör zu! Das ganze hier steht kurz vor dem Ende. Wir
stecken bereits im Finale. Ganz Panem guckt wahrscheinlich gerade zu. Du musst
noch viel vorsichtiger sein, als vorher. Fordere dein Glück nicht heraus! Warte
bis die beiden sich gegenseitig die Köpfe einschlagen. Du musst nicht
zwangsläufig gegen sie kämpfen um das zu gewinnen.“ Ich sehe zu Boden. „Was
ist, wenn wir beide am Ende übrig bleiben? Wirst du mich dann töten?“, frage
ich. Er seufzt leise. „An dieser Stelle des Finales befinden wir uns noch nicht.“
Ein Ast knackt. Schritte ertönen. Alamiert blickt er auf. „Los! Auf den Baum
da!“, zischt her und schubst mich in die Nähe eines riesigen Baumes in unserer
Nähe. So schnell und leise wie möglich ziehe ich mich hoch. Gerade noch
rechtzeitig, denn schon höre ich Canes arrogante Stimme.
„Da sieh mal einer an.
Unser schwarzer Riese.“ Tarlan knurrt verärgert. „Nur nicht rassistisch werden,
du Held.“, kontert er. „Hat es dir Spaß gemacht? Michael leiden zu sehen, bevor
du ihn endlich erlöst hast?“ Bedrohlich hat er sich vor den beiden aufgebaut.
Er ist größer als beide. Aber trotzdem allein. Ich überlege kurz, ihm zu
helfen, doch im selben Moment bemerke ich wie lächerlich es klingt. Was werde
ich schon ausrichten können?
„Es hat keinen Spaß
gemacht Tarlan.“ Ich wundere mich immer wieder, wie Manou es schafft in jeder
Situation ruhig zu klingen. „Aber wir geben ihnen, was sie wollen. Du weißt
genau, wie sehr sie ein schauriges Spektakel lieben. Wenn Cane oder ich hier
rauskommen- sie werden uns genauso lieben.“ „Ach, red nicht so einen Unsinn!“
Wütend spuckt Tarlan vor ihm auf den Boden. „Ihr beide findet es doch so
klasse, jemandem wehzutun. Ich wette ihr habt euch auf seine Schreie einen
runtergeholt!“ Er provoziert. Und er geht zu weit damit. „Das reicht!“, brüllt
Cane, zieht plötzlich ein Schwert hinter dem Rücken hervor und springt auf Tarlan
zu. Doch auch der hat sein Schwert parat. Es knirscht hässlich in den Ohren,
als die beiden Klingen aufeinander knallen. Manou weiß nicht, was er tun soll,
steht am Rand und sieht sich um.
Doch, er weiß sehr wohl
was er tun soll. Er sucht mich. Sofort drücke ich mich enger an den Baumstamm,
starre aber weiterhin gebannt auf den Kampf. Manou scheint sich sicher zu sein,
dass Cane diesen Kampf gewinnt, denn er unternimmt nichts, um seinem
vermeintlichen Partner zu helfen. Vielleicht hofft er auch einfach, dass Tarlan
ihn erledigt, sodass er es nicht selbst machen muss. In diesem Moment bohrt
sich eine Klinge tief ins Fleisch. Beinahe lautlos stößt Tarlan sie in Canes
Magengegend. Es ist plötzlich still auf der Lichtung. Cane ist zu perplex um
etwas zu sagen, auch Manou scheint geschockt. Ich halte den Atem an und will
wegsehen. Will, dass Tarlan wieder bei mir sitzt und ich seinen Kopf in seiner
Jacke vergraben kann um es nicht mit ansehen zu müssen. Ich kann nicht wegsehen.
Tarlan geht mit Cane zu Boden, hockt sich neben ihn. Auch er ist verletzt,
allerdings nicht so schwer. Er hat einige Schnittwunden im Gesicht und viele
weitere auf den Armen. Er atmet schwer. „Sie mir in die Augen.“, fordert
er Cane auf. Dieser atmet nur noch
flach. „Ich wollte doch bloß…“ Er bricht ab und verzieht das Gesicht vor
Schmerz, setzt dann noch einmal an. „Ich… wollte doch bloß… hier raus…kommen.“
Seine Stimme wird immer leiser. Sie klingt jetzt nicht mehr so arrogant.
Sondern sehr schwach. Manou nähert sich langsam. Sichtlich geschockt.
Vielleicht auch ein wenig frohlockend, ich kann es nicht einschätzen. Ich muss
mich anstrengen um Tarlans nächste Worte zu verstehen. „Du wirst jetzt hier rauskommen,
Cane.“ Er spricht leise. „Aber nicht lebend.“ Er erhebt sich und sticht sein
Schwert in Canes Brust, erlöst ihn. Die Kanone. Ich werde dieses Geräusch bis
an mein Lebensende hassen. Abgrundtief.
Mit dem, was jetzt kommt,
rechne ich überhaupt nicht. Manou stößt einen beinahe hysterischen Schrei aus,
rennt auf Tarlan zu und wirft das Messer nach ihm. Tarlan bewegt sich kein
Stück. Ohne ein Wort lässt er die Klinge in seinen Brustkorb sausen. Ein leises
Aufstöhnen kann er nicht unterdrücken. Dann geht er in die Knie. Manou tritt zu
ihm, zieht die Klinge heraus, sticht aber nicht noch einmal zu. „Wo ist die
Kleine?“, zischt er. „Na los! sag es mir. Wo steckt sie?“ Er sieht sich wieder
um und ich schließe die Augen in der Hoffnung, dass er mich nicht sieht. Wie
dumm von mir. Sehe ich dich nicht siehst du mich nicht. Schön, wenn es so wäre.
Gut, dass es noch dunkel ist.
Tarlan grinst nur. „Sie
ist nicht hier.“, sagt er, mit noch fester Stimme. „Sie ist tief im Wald und
wartet darauf, dass wir drei uns erledigen. Sie wird gewinnen Manou.“ Er starrt
gen Himmel. Seine Augen werden glasig. „Sie wird gewinnen.“ „Du willst dass sie gewinnt.“, knurrt Manou.
„Deswegen, lässt du dich töten.“ Er dreht sich um und rennt einige Meter weiter
in den Wald hinein, dann blickt er noch mal zurück. „Sie wird nicht gewinnen, das
verspreche ich dir!“, schreit er. Ein paar einzelne Regentropfen fallen vom
Himmel. „Ich werde sie töten, das verspreche ich dir. Ich werde das hier gewinnen, hörst du? Und ich hoffe sie hört es
auch.“ Er zittert am ganzen Körper. Ängstlich kralle ich mich an den Baumstamm.
Er wird langsam glitschig. Es regnet stärker. Manou ist nicht mehr so ruhig wie
sonst. Er scheint völlig irre zu sein. Ich weiß warum. Er ist kurz davor,
lebend aus dieser Arena heraus zu kommen und hat Angst, dass er so kurz vor dem
Ziel an einem kleinen Mädchen scheitert. Die Aussicht auf Leben scheint einem
hier den letzten Nerv zu rauben. Ich warte bis er eine gewisse Zeit im Wald
verschwunden ist, dass rutsche ich den Baum herunter. Jetzt gießt es in
Strömen. Ich renne herüber zu Tarlan. Er liegt jetzt auf dem Boden und atmet
ähnlich flach wie Cane vorhin. Seine Hand liegt auf der Wunde in seiner Brust.
Der Regen wäscht das Blut weg, doch sie ist trotzdem da. „Stimmt es, was er gesagt hat?“, frage ich
zitternd während Regentropfen an meinen Wangen herunter laufen. Vielleicht sind
es auch Tränen, ich spüre nichts mehr. Tarlan sieht mich an mit seinen glasigen
Augen. „Du musst hier gewinnen. Du hast es verdient.“ Mit einer schwachen Bewegung
greift er nach meiner Hand. Sie wird zunehmend kälter. Es ist als ob mit der
Temperatur auch das Leben aus ihm weicht. „Ein kleines, unschuldiges Mädchen
wie du darf dem Kapitol nicht zum Opfer fallen. Es sollte verboten werden
Mädchen bei den Hungerspielen einzusetzen.“ Ich lächele bitter. „Sonst bekommen
sie das Drama nicht, das sie gern hätten.“ Tarlans Augenlieder flackern
bereits. Er atmet kaum noch. „Warum ich?“, flüstere ich. Er versucht zu
lächeln. „Weil du von allen übrigen Mädchen die hilfloseste warst. Und weil
endlich mal jemand gewinnen soll, der nicht so blutrünstig ist, wie sie es gern
hätten.“ Jetzt weine ich wirklich. Es scheint nicht real zu sein. Plötzlich ist
alles wie in einem schlechten Traum. Tarlan, das Blut, der Regen, die Arena,
Manou- Manou! Ich muss wirklich
aufpassen. Ich muss an einen Ort der sicherer ist, als der hier.
„Danke.“, hauche ich in
Tarlans Ohr. Bei seinem letzten Atemzug lächelt er. Dann ist dieses Lächeln für
immer eingefroren. Ich fange an, heftiger zu zittern. Und das nicht nur, weil
der Regen langsam durch die Jacke in meine Kleidung dringt und mich frieren
lässt. Traurig sehe ich zu Boden. Wenn ich mir jemals wünschen werde, dass es
ein Leben nach dem Tod gibt, dann jetzt. Ich wünsche es mir jetzt und hier für
Tarlan. Ich will, dass er nach seinem Tod für seine Taten belohnt wird. Langsam
lege ich meine Finger auf seine Augenlieder und schließe sie. Ich will, dass es
so aussieht als würde er schlafen. Bei dem Kanonenschuss drehe ich fast durch.
Nur noch einen muss ich ertragen. Oder vielleicht erlebe ich ihn auch gar nicht
mehr.
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