Nach der Eröffnungsfeier kommt
eine Woche gemeinsames Training. Direkt beim ersten Training habe ich die
Möglichkeit, die Tribute genauer ins Auge zu fassen. Es gibt nur wenige, die
sofort einen großen Eindruck auf mich machen. Da ist einmal Cane. Ein furchteinflößender
Kerl, achtzehn Jahre alt und noch kräftiger als Michael. Er gehört zu den
Karrieros aus Distrikt 2. Seine eisblauen Augen sehen so aus, als würde er
keine Gnade kennen. Und genau den Eindruck macht er beim Training auch.
Gnadenlos wirft er ein Messer nach dem nächsten auf die Puppen und schlägt
nahezu jeder den Kopf ab. Nicht nur Cane, auch ein dunkelhäutiger Junge aus
Distrikt 11 sieht äußerst gefährlich aus. Er ist nicht so impulsiv wie Cane,
viel ruhiger, aber gerade das macht ihn so bedrohlich. Mit düsterem Blick
absolviert er das Training. Er scheint ohne Freude dran zu sein, das ist der
größte Unterschied zwischen den beiden. Doch er scheint absolut tödlich. Er
heißt Tarlan. Ich empfinde ein wenig Mitleid mit ihm. Genauso wie Cane ist er
achtzehn. Im letzten Jahr der möglichen Ernte rechnet man kaum noch damit,
gezogen zu werden. Umso schlimmer ist es wenn man all die Jahre hofft und bangt
und nach sechs Jahren doch noch in die Arena muss. Doch so wie er aussieht,
braucht er kein Mitleid. Er hat gute Chancen. Mein Herz zieht sich zusammen,
wenn ich die beiden zusammen mit Michael und Manou, einem Sechzehnjährigen aus
Distrikt 4 betrachte. Meine Chancen sind gleich null. Ich brauche verdammtes
Glück, wenn ich an all denen vorbei kommen will.
Am rührensten sind diesmal
die Tribute aus Distrikt 12. Ein zwölfjähriges Mädchen, Mary und der
dreizehnjährige Bounce. Mary ist winzig und verdammt ängstlich. Beim Training
sitzt sie fast nur in der Ecke, mit verweinten Augen und sieht den anderen zu.
Bounce versucht immer, sie aufzumuntern oder mit den älteren mitzuhalten.
Beides vergeblich.
Die beiden Mentoren Crak
und Lizzy warnen Michael und mich bei jeder Mahlzeit, die Augen nicht nur auf
die offensichtlich brutalsten Tribute zu legen. „Es sind die unscheinbaren, die
euch im Dunkeln den Hals umdrehen!“, pflegt Lizzy stets zu sagen. Sie gibt uns
unaufhörlich Tipps, während Crak die Meinung vertritt, dass ich in ein paar
Tagen mausetot bin. Er ist ein wahres Motivationstalent. Bei Michael dagegen
hat er noch etwas Hoffnung. Doch nachdem er einen Blick auf Tarlan, Cane und
Manou geworfen hat scheint auch diese verraucht zu sein. Sein einziger
Ratschlag ist immer wieder derselbe. Passt auf die Unscheinbaren auf. Immer und
immer wieder.
Am Ende der Trainingswoche
müssen wir einzeln vor den Spielmachern erscheinen. Hier können wir ihnen
zeigen was wir können um für unsere Leistung eine Punktzahl zu erhalten. Ich
versuche viele verschiedene Dinge, da ich kein besonderes Talent habe. Am Ende
bekomme ich sechs Punkte. Besser als gar nichts. Die kleine Mary bekommt einen
Gnadenpunkt. Michael räumt ganze neun Punkte ab. Cane, Tarlan und Manou jeweils
elf, der Rest liegt zwischen neun und vier. Ich bin also nicht die
schlechteste, aber trotzdem nicht gut. Das bringt mir sicher nicht viele
Sponsoren ein. An meinen Gedanken, die ich mir über die Sponsoren und meinen
Eindruck mache erkenne ich, dass ich doch noch nicht das letzte Fünkchen
Hoffnung aufgegeben habe. Obwohl es eigentlich nur vernünftig wäre.
Einen Tag später finden
die Interviews mit Caesar Flickermann statt. Er führt diese Interviews bereits
seit fast fünfunddreißig Jahren. Seine jedes Jahr wechselnde Haarfarbe ist
dieses Jahr giftgrün. Es lässt ihn aussehen wie einen Troll. Mein Interview
verläuft ohne große Überraschung wieder einmal durchschnittlich. Ich bin nicht
sehr gesprächig, antworte möglichst kurz auf seine Fragen. Er fragt nach meiner
Familie, wie viel Hoffnungen auf den Sieg ich habe und was ich tun werde, wenn
ich nach Hause kommen sollte. Die letzte Frage tut weh. Wenn ich nach Hause
kommen sollte. Doch Caesar macht seine Aufgabe wunderbar, er lässt alle Tribute
im richtigen Licht erscheinen. Selbst aus Mary bekommt er einige Worte heraus,
sodass ein gerührtes Aufseufzen durch das Publikum geht. Ich bin mir sicher,
dass der dramatische Schwerpunkt dieses Jahr auf ihr liegen wird. Die armen
Eltern und Geschwister, die sich das antun müssen.
Am Abend vor Beginn der
Spiele essen Michael und ich noch einmal zusammen mit unseren Mentoren und den
beiden Stylistinnen. Die vier scheinen eine gewisse Vorfreude zu haben, die
mich traurig wirken lässt. Sie alle wollen unseren Tod. Den Tod anderer
Tribute. Sie wollen eine blutige Show. Alle. Es interessiert sie nicht, wie wir
da durchkommen. Die ganze Nacht liege ich wach und gehe alles im Kopf durch.
Das Interview, die anderen Tribute und die Frage, in welche Arena sie uns wohl
stecken würden. Im letzten Jahr war es eine Wüste. Die Hungerspiele waren
schnell vorbei, die Hälfte verdurstete und der Rest verendete in einem einzigen
Gemetzel, da alle Tribute schnell bemerkten, dass sie dort keinen Unterschlupf
hatten. In dieser Situation würde ich auch versuchen, das ganze möglichst
schnell zu beenden. Hoffentlich haben die Spielmacher aus dem letzten Durchgang
gelernt. Hoffentlich gibt es genug Möglichkeiten sich zu verstecken. Nur so
werde ich eine Chance haben.
Ich frage mich was meine
Eltern grad machen. Vermutlich haben sie zu Abend gegessen und sind vor dem Fernseher
versteinert. So wie ich meinen Vater kenne, redet er wahrscheinlich kein Wort
mehr. Wenn ich sterbe, das weiß ich genau, dann wird er ausrasten und etwas
tun, was er bereuen wird. Irgendwelche Wachleute angreifen oder aus dem
Distrikt flüchten, ins Kapitol stürmen und irgendjemanden dafür büßen lassen.
Noch ist es ja nicht so weit. Ich schließe die Augen und versuche wenigstens
ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Wer weiß, wie lange ich morgen ohne Schlaf
bleiben muss.
Als ich am nächsten morgen
aufwache brauche ich einen Moment um zu realisieren, dass es heute ernst wird.
Sofort bekomme ich Herzrasen. Panisch ziehe ich mir die Decke über den Kopf,
schließe die Augen und wünsche mich wo anders hin. Vergebens. Ich mache die
Augen wieder auf, nehme die Decke weg und bin immer noch am selben Ort wie vorher.
Im selben Moment kommen die Tränen, ohne Vorwarnung, sodass ich mich nicht
dagegen wehren kann. Wütend wische ich sie weg, doch versuche nicht dagegen zu
halten. Ich warte bis es vorbei ist und stehe dann auf, um mir das Gesicht zu
waschen. Danach sieht man gar nicht mehr, dass ich geweint habe. Ich will nach
Hause. Ich habe Heimweh.
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