Am Abend sitze ich wieder
sicher im Gebüsch und esse gebratenen Hasen. Die Hymne ertönt und ich sehe das
Bild von den Jungen aus Distrikt 9 und 10. Der zweite war entweder den Wespen
oder Manou und der Gruppe erwischt worden. Das dritte Bild trifft mich sehr. Es
ist Mary. „Armes Ding.“, sage ich. „Wenigstens hat sie es hinter sich.“ Ich
frage mich, ob sie getötet worden ist oder einfach nur verdurstet. Ich
überlege, wer noch alles im Rennen ist. Das Mädchen aus Distrikt 1. Ich habe
sie nie gesehen. Sie soll eine gute Jägerin sein. Ich hoffe stark, dass sie nur
auf Tiere Jagd macht. Ob sie heute auch im Feld war? Aus Distrikt 4 waren noch
Manou und das Mädchen da. Ich frage mich, ob sie sich denen auch angeschlossen
hat. Beim Training sah sie sehr gerissen aus. Aber nicht sehr angetan von
Manou. Ihr Name ist Klarina, soweit ich weiß. Aus Distrikt 5 kommen Michael und
ich. Wir sind beide noch im Spiel, Michael hat sich den Stärksten
angeschlossen. Ich halte das für eine dumme Idee. Selbst wenn die drei am Ende
übrig bleiben, werden sie sich trotzdem den Schädel einschlagen müssen. Was
mich sehr erstaunt ist, dass Tarlan offenbar doch nicht zu ihnen gehört. Er
wäre doch sonst während der Jägerwespenattacke bei den anderen gewesen und
hätte nicht weglaufen müssen. Es bleibt nur noch das Mädchen aus Distrikt 10.
Sie ist die unscheinbarste. Doch Lizzy hat mich vor genau diesen ja gewarnt.
Ich werde vorsichtig sein müssen. Da ich jedoch den kompletten Hasen verspeist
habe, muss ich morgen erneut auf die Jagd gehen.
In den nächsten Tagen
passiert merkwürdigerweise gar nichts. Ich habe Angst, dass den Spielmachern
langweilig werden könnte und sie etwas Bewegung in die Arena bringen. Doch auch
davon trifft nichts ein. Ich gehe fast täglich jagen, meistens bekomme ich auch
etwas. Ein Kaninchen, Eichhörnchen und einmal einen Vogel. Trotzdem stelle ich
mich immer noch ein wenig ungeschickt an. Tara bleibt die ganze Zeit über bei
mir. Wenn ich sie bei den Büschen lasse, in denen ich schlafe wartet sie dort
die ganze Zeit. Das schlafen ist auch angenehmer. Dank des Rucksacks, den ich
im Feld ergattern konnte habe ich einen Schlafsack.
Nach einigen Tagen reite
ich durch den Wald um wieder zum Feld zu gelangen. Ich muss dort wieder jagen
gehen, denn gestern habe ich im Wald nichts gefunden. Ich denke an die anderen
Tribute. Vor allem an Tarlan. Ich frage mich, warum er mir das Leben gerettet
hat. Er hätte auch an mir vorbeilaufen können und der Wespenschwarm hätte mich
attackiert. Vermutlich tötet er mich nicht, weil ich keine Gefahr für ihn
darstelle. Klingt einleuchtend. Gerade als ich um eine Ecke biege höre ich das
Zirren eines Pfeils. Fast im selben Moment steigt Tara und rennt los,
erschrocken, schnaubend vor Schmerz. Ich spüre wie sie ein Hinterbein
nachzieht. Der Pfeil muss sie dort getroffen haben. Ich höre ein weiteres
Zirren, ducke mich und der Pfeil streift durch meine Haare hindurch. Er landet
vor uns. Die Federn sind rot. Es kann nicht die Gruppe um Cane sein. Die haben
nur zwei Bögen, den gelben und den grünen. Plötzlich kippt ein paar Meter vor
uns ein gewaltiger Baumstamm auf den Weg. Das müssen die Spielmacher gewesen
sein. Tara kann nicht mehr bremsen. Sie hebt die Vorderbeine darüber, doch
bleibt mit dem verletzten Hinterbein hängen. Ich schreie auf, als ich nach
vorne fliege. Pferd und Reiter überschlagen sich, liegen übereinander und im
nächsten Moment wieder ganz anders. Der Weg führt plötzlich steil nach unten.
Tara und ich rutschen immer weiter, zum Glück jetzt so getrennt, dass mich das
enorme Gewicht von ihr nicht verletzen kann. Ich schreie nicht. Ich bekomme
kaum noch Luft. Als ich endlich zum liegen komme bemerke ich, dass ich in einem
Graben gelandet bin, der mit Unkraut fast vollständig zugewachsen ist.
Sofort höre ich ein
Rascheln auf dem Boden. Jetz sehe ich, wer mich angegriffen hat. Wendy, das
Mädchen aus Distrikt 1. Sie hält den Bogen bereits gespannt in der Hand und
dreht sich in alle Richtungen um mich zu suchen. Sie sieht mich nicht. Dann,
ganz plötzlich, wie aus dem nichts springt ein weiteres Mädchen aus einem Baum,
landet geschickt auf Wendys Rücken und zwingt sie zu Boden. Es ist das Mädchen
aus Distrikt 10. Wendy kreischt und schlägt um sich. Für ein paar Minuten
ringen sie miteinander. Das Mädchen deren Namen ich nicht mehr weiß hält ein
Messer in der Hand. Doch Wendy schlägt zu sehr um sich, deshalb kann es
nirgendwo treffen. Mit angehaltenem Atem beobachte ich den Kampf. Dann
plötzlich schreit Wendy lauter auf als vorher und bleibt leblos liegen. Rasch
breitet sich eine Blutlache auf dem Waldboden aus. Ihre Gegnerin hat ihr die
Kehle durchgeschnitten. Diese steht nun auf, atmet schwer, blickt dann herüber
zu meinem Graben. Ein Kanonenschuss. Mein Herz schlägt schneller. Sie weiß wo
ich bin. Sie saß die ganze Zeit im Baum, sie muss gesehen haben, wie ich in den
Graben gefallen bin. Wendy hat ihr einen Zahn heraus geschlagen. Ein blutiges
Grinsen zieht sich über ihr Gesicht. Großer Gott, das Mädchen ist eine Furie.
Hier endet mein Glück. Wenn sie mich bereits entdeckt hat, werde ich sterben.
„Jetzt bist du dran.“,
keucht sie und ihr Grinsen wird breiter. Ich robbe ein Stück nach hinten. „Das
bringt dir nichts, Quinn! Ich weiß
genau wo du bist.“ Die Erkenntnis, dass sie meinen Namen weiß, aber ich ihren
nicht, lässt mich schaudern. Sie hat mir also stille Aufmerksamkeit geschenkt,
während ich sie kaum wahrgenommen habe. Wieder einmal mehr geht mir Lizzys
Stimme durch den Kopf. Hätte ich sie vor den Spielen doch nur ernster genommen.
Sie kommt immer näher auf mich zu, hebt die Hand und schieb das Unkraut
beiseite. „Hallo.“, haucht sie und grinst auf mich herab. Es ist absolut
demütigend am Boden zu liegen und ängstlich zu ihr hoch zustarren, darauf
wartend, dass sie mich tötet. Ich habe nichts bei mir. Den hölzernen Speer habe
ich beim Sturz verloren. Völlig ungeschützt und ausgeliefert liege ich im
Graben und warte darauf, dass ihr Messer sich zwischen meine Rippen bohrt. Sie
scheint sich keine Mühe machen zu wollen, zu mir hinab zusteigen. Langsam hebt
sie die Hand mit dem bereits blutigen Messer und zielt auf meinen Brustkorb.
Ich hoffe darauf, dass ich rechtzeitig merke, wann sie wirft, um mich dann
wegzudrehen. Sie holt aus, eine tausendstel Sekunde jedoch, bevor sie abwirft,
erscheint ein riesiger Schatten hinter ihr und sie erstarrt. Ihre Augen weiten
sich und fassungslos starrt sie auf ihre Brust. Ich starre ebenfalls, denn ein
Schwert ragt heraus. Dieser Moment der Ablenkung reicht aus, um das Messer zu
vergessen und sich nicht zur Seite zu drehen. Ein brennender Schmerz zieht sich
plötzlich über meine linke Wange. Entsetzt lege ich die Hand daran. Als ich sie
wieder zurückziehe ist sie voller Blut. Das Mädchen hat ihr Ziel verfehlt, weil
sie plötzlich das Schwert zwischen den Rippen hatte. Dabei muss ihre Hand ein
Stück nach rechts gegangen sein. Nun kippt das tote Mädchen in den Graben zu
mir. Im gleichen Moment ertönt ein Kanonenschuss. Nun sehe ich nach oben. Tarlan
steht am Rande des Grabens und streckt mir seine riesige Hand entgegen. Perplex
ergreife ich sie, lasse mich von ihm aus dem Graben ziehen. Ich stehe vor ihm,
er ist sicher zwei Köpfe größer als ich. Seine dunkle, fast schwarze Haut lässt
ihn noch bedrohlicher wirken. Ich kann nicht anders, als hysterisch zu lachen.
„Ich glaube es nicht. Warum reißt ihr euch alle nur so darum, mich zu töten?
Erst Wendy, dann kam sie“, ich zeige in den Graben, „ und hat Wendy getötet,
Jetzt kommst du und tötest sie. Und jetzt mich oder wie?“ Er schüttelt bloß den
Kopf. Dann zeigt er hinter sich. Ich sehe hin und mir schießen Tränen in die
Augen. Tara ist tot. Sie liegt dort wie zusammengefaltet. Ein schmutzig grauer
Haufen. Ihr Genick ist gebrochen und verdreht, das muss beim Sturz passiert sein.
Sofort drehe ich den Kopf zur Seite und unterdrücke meine Tränen. Tarlan
spricht und seine tiefe, ruhige Stimme lässt mich zuhören. „Ich werde dich
nicht töten Quinn. Das bringt mir nichts. Und was diese beiden angeht: Sie
denken, dass du irgendetwas hast. Etwas, das du allen verheimlicht hast.“
Überrascht sehe ich ihn an. „Warum denn? Ich habe mich in ihrer Gegenwart nie
geschickt angestellt.“ „Aber du bist jetzt schon so weit gekommen.“ Er lächelt.
Ein wenig schaurig sieht es aus. „Sie wissen nicht, dass du bis hierhin einfach
nur Glück hattest.“ Glück. Das ist es. Er zeigt mir ganz deutlich, dass ich
hier nicht die geringste Chance habe. Er lässt mich bloß aus Mitleid am leben.
Weil er weiß, dass er mir im Ernstfall ohnehin überlegen ist. Natürlich weiß
ich das auch. Aber immer wieder schwebt diese Hoffnung in mir. Was wäre wenn…
„Übrigens gehen auch Cane
und seine Gefolgsleute auch davon aus, dass du etwas ganz bestimmtes kannst.
Sie haben ein wenig Angst vor dir.“ Er lacht. Ganz leise. „Sie sind aber genauso
sehr hinter dir her, wie diese beiden Mädchen. Du solltest ein wenig Acht
geben.“ Was er sagt erfüllt mich mit Stolz. Sie haben ein wenig Angst vor mir.
Vor etwas, das ich gar nicht besitze, aber sie glauben es. Und es macht mich
ein klein wenig überlegender. Die Tatsache, dass sie es auf mich abgesehen
haben, ist natürlich nicht sehr günstig.
Tarlan nimmt mich mit zu
dem Baum, auf dem er immer schläft. Zwischen den Ästen hängen alle seine
Sachen. Er hat den blauen Bogen erwischt, nutzt ihn jedoch nach eigenen Angaben
nur zu Jagdzwecken. Für den Kampf hat er zwei Messer und das Schwert mit dem er
das Mädchen aus Distrikt 10 getötet hat. Einen Rucksack hat er auch, sogar mit
zwei Schlafsäcken. Einen Ast weiter hängen Reste eines toten Wildschweins. Sein
Fähigkeiten im jagen scheinen großartig zu sein, wenn er es ganz allein erlegen
konnte. Er lässt mich ein Stück davon essen und schmiert die Wunde an meiner
Wange mit Salbe ein. „Wo hast du die her?“, frage ich. „Das ist ein
Sponsorengeschenk.“; antwortet er. „Nachdem ich den Jägerwespen entkommen bin,
hatte ich eine kleine Auseinandersetzung mit dem Jungen aus Distrikt 10. Er hat
ganz schön rein gehauen mit seinem Messer.“ Er zeigt mir eine lange, tiefe
Narbe in seinem Oberarm. Ich verziehe das Gesicht. „Du hast den Jungen getötet
oder?“ Ich erinnere mich an sein Bild im Himmel. Tarlan nickt. „Ich hatte keine
Wahl. Außerdem ist er über das kleine Mädchen aus Distrikt 12 hergefallen.“
„Mary? Oh Gott.“ Ich schüttele den Kopf über so viel Ungerechtigkeit. Jetz weiß
ich also was mit ihr passiert ist. Wenn ich sie nicht im Wald hätte stehen
lassen, wäre sie vermutlich nicht tot. Oder ich wäre es mit ihr.
„Hast du eigentlich
Sponsoren?“, fragt Tarlan. „Du hast im Training nicht sonderlich viel Eindruck
gemacht.“ Er meint es nicht böse, das merke ich. Er ist bloß ehrlich. Ich
lächele leicht. „Nein, ich glaube ich habe keine. Zumindest habe ich noch kein
Geschenk bekommen. Allerdings brauchte ich das bis jetzt auch nicht. Ich war
noch nicht am verhungern und bis auf heute noch nie verletzt.“ Wie konnte ich
nur so viel Glück gehabt haben? Er nickt nur nachdenklich. „Du hast dich nie
mit Cane und den anderen zusammengetan oder?“, will ich wissen. Er schüttelt
den Kopf. „Nein, aus dem Gemetzel halte ich mich grundsätzlich raus. Ich bin
nicht der Typ, der in der Gruppe auf alle Schwächeren losgeht. Habe ich den
Eindruck gemacht?“ Ich lache leise. „Ja, ein wenig. Woher weißt du das denn
über sie? Das sie hinter mir her sind meine ich.“ Zunächst antwortet er mit
einem Grinsen. Dann sagt er: „Ich beobachte sie. Im Dunkeln sieht man mich
nicht besonders gut. Ich kann alle ihre Gespräche belauschen.“ Mit dieser
Antwort gebe ich mich zufrieden. Ich bin müde. „Schlaf etwas, Quinn.“, sagt er.
„Ich passe schon auf, dass du hier nicht vom Baum fällst. Wenn etwas passiert
wecke ich dich.“ Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihm vertrauen kann, doch
ich bin einfach zu müde. Was heute passiert ist, sitzt noch tief. Gerade die
Trauer um Tara, zudem hat Tarlan mir erzählt dass die anderen Pferde schon
lange tot waren. Und die Erkenntnis dass ich heute mehr als einmal hätte
sterben können. Wieder einmal denke ich an meine Eltern und Freunde und auf
einmal bekomme ich schrecklicheres Heimweh als je zuvor. Ich will nicht mehr
hier sein, wo ich rund um die Uhr Angst um mein Leben haben muss. Ich will
nicht mehr ständig auf der Flucht sein. Die Sicherheit, die ich zuhause habe -
in der Arena ist sie vollends verschwunden. Hier ist alles ernst. Zu ernst. Die
Tränen kommen ganz plötzlich, wie immer, wenn ich weinen muss und ich drehe den
Kopf so zu Seite, dass er in meiner Regenjacke verschwindet. Ich will nicht
dass Tarlan sieht, dass ich weine. Er weiß es trotzdem. Er hat es bemerkt. Doch
er tut so, als wäre nichts, um mir diesen privaten Moment zu lassen. Noch
während die Hymne ertönt und die Bilder der beiden Mädchen zeigt, schlafe ich
ein.
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