Kapitel 5


Am Abend sitze ich wieder sicher im Gebüsch und esse gebratenen Hasen. Die Hymne ertönt und ich sehe das Bild von den Jungen aus Distrikt 9 und 10. Der zweite war entweder den Wespen oder Manou und der Gruppe erwischt worden. Das dritte Bild trifft mich sehr. Es ist Mary. „Armes Ding.“, sage ich. „Wenigstens hat sie es hinter sich.“ Ich frage mich, ob sie getötet worden ist oder einfach nur verdurstet. Ich überlege, wer noch alles im Rennen ist. Das Mädchen aus Distrikt 1. Ich habe sie nie gesehen. Sie soll eine gute Jägerin sein. Ich hoffe stark, dass sie nur auf Tiere Jagd macht. Ob sie heute auch im Feld war? Aus Distrikt 4 waren noch Manou und das Mädchen da. Ich frage mich, ob sie sich denen auch angeschlossen hat. Beim Training sah sie sehr gerissen aus. Aber nicht sehr angetan von Manou. Ihr Name ist Klarina, soweit ich weiß. Aus Distrikt 5 kommen Michael und ich. Wir sind beide noch im Spiel, Michael hat sich den Stärksten angeschlossen. Ich halte das für eine dumme Idee. Selbst wenn die drei am Ende übrig bleiben, werden sie sich trotzdem den Schädel einschlagen müssen. Was mich sehr erstaunt ist, dass Tarlan offenbar doch nicht zu ihnen gehört. Er wäre doch sonst während der Jägerwespenattacke bei den anderen gewesen und hätte nicht weglaufen müssen. Es bleibt nur noch das Mädchen aus Distrikt 10. Sie ist die unscheinbarste. Doch Lizzy hat mich vor genau diesen ja gewarnt. Ich werde vorsichtig sein müssen. Da ich jedoch den kompletten Hasen verspeist habe, muss ich morgen erneut auf die Jagd gehen.
In den nächsten Tagen passiert merkwürdigerweise gar nichts. Ich habe Angst, dass den Spielmachern langweilig werden könnte und sie etwas Bewegung in die Arena bringen. Doch auch davon trifft nichts ein. Ich gehe fast täglich jagen, meistens bekomme ich auch etwas. Ein Kaninchen, Eichhörnchen und einmal einen Vogel. Trotzdem stelle ich mich immer noch ein wenig ungeschickt an. Tara bleibt die ganze Zeit über bei mir. Wenn ich sie bei den Büschen lasse, in denen ich schlafe wartet sie dort die ganze Zeit. Das schlafen ist auch angenehmer. Dank des Rucksacks, den ich im Feld ergattern konnte habe ich einen Schlafsack.
Nach einigen Tagen reite ich durch den Wald um wieder zum Feld zu gelangen. Ich muss dort wieder jagen gehen, denn gestern habe ich im Wald nichts gefunden. Ich denke an die anderen Tribute. Vor allem an Tarlan. Ich frage mich, warum er mir das Leben gerettet hat. Er hätte auch an mir vorbeilaufen können und der Wespenschwarm hätte mich attackiert. Vermutlich tötet er mich nicht, weil ich keine Gefahr für ihn darstelle. Klingt einleuchtend. Gerade als ich um eine Ecke biege höre ich das Zirren eines Pfeils. Fast im selben Moment steigt Tara und rennt los, erschrocken, schnaubend vor Schmerz. Ich spüre wie sie ein Hinterbein nachzieht. Der Pfeil muss sie dort getroffen haben. Ich höre ein weiteres Zirren, ducke mich und der Pfeil streift durch meine Haare hindurch. Er landet vor uns. Die Federn sind rot. Es kann nicht die Gruppe um Cane sein. Die haben nur zwei Bögen, den gelben und den grünen. Plötzlich kippt ein paar Meter vor uns ein gewaltiger Baumstamm auf den Weg. Das müssen die Spielmacher gewesen sein. Tara kann nicht mehr bremsen. Sie hebt die Vorderbeine darüber, doch bleibt mit dem verletzten Hinterbein hängen. Ich schreie auf, als ich nach vorne fliege. Pferd und Reiter überschlagen sich, liegen übereinander und im nächsten Moment wieder ganz anders. Der Weg führt plötzlich steil nach unten. Tara und ich rutschen immer weiter, zum Glück jetzt so getrennt, dass mich das enorme Gewicht von ihr nicht verletzen kann. Ich schreie nicht. Ich bekomme kaum noch Luft. Als ich endlich zum liegen komme bemerke ich, dass ich in einem Graben gelandet bin, der mit Unkraut fast vollständig zugewachsen ist.
Sofort höre ich ein Rascheln auf dem Boden. Jetz sehe ich, wer mich angegriffen hat. Wendy, das Mädchen aus Distrikt 1. Sie hält den Bogen bereits gespannt in der Hand und dreht sich in alle Richtungen um mich zu suchen. Sie sieht mich nicht. Dann, ganz plötzlich, wie aus dem nichts springt ein weiteres Mädchen aus einem Baum, landet geschickt auf Wendys Rücken und zwingt sie zu Boden. Es ist das Mädchen aus Distrikt 10. Wendy kreischt und schlägt um sich. Für ein paar Minuten ringen sie miteinander. Das Mädchen deren Namen ich nicht mehr weiß hält ein Messer in der Hand. Doch Wendy schlägt zu sehr um sich, deshalb kann es nirgendwo treffen. Mit angehaltenem Atem beobachte ich den Kampf. Dann plötzlich schreit Wendy lauter auf als vorher und bleibt leblos liegen. Rasch breitet sich eine Blutlache auf dem Waldboden aus. Ihre Gegnerin hat ihr die Kehle durchgeschnitten. Diese steht nun auf, atmet schwer, blickt dann herüber zu meinem Graben. Ein Kanonenschuss. Mein Herz schlägt schneller. Sie weiß wo ich bin. Sie saß die ganze Zeit im Baum, sie muss gesehen haben, wie ich in den Graben gefallen bin. Wendy hat ihr einen Zahn heraus geschlagen. Ein blutiges Grinsen zieht sich über ihr Gesicht. Großer Gott, das Mädchen ist eine Furie. Hier endet mein Glück. Wenn sie mich bereits entdeckt hat, werde ich sterben.
„Jetzt bist du dran.“, keucht sie und ihr Grinsen wird breiter. Ich robbe ein Stück nach hinten. „Das bringt dir nichts, Quinn! Ich weiß genau wo du bist.“ Die Erkenntnis, dass sie meinen Namen weiß, aber ich ihren nicht, lässt mich schaudern. Sie hat mir also stille Aufmerksamkeit geschenkt, während ich sie kaum wahrgenommen habe. Wieder einmal mehr geht mir Lizzys Stimme durch den Kopf. Hätte ich sie vor den Spielen doch nur ernster genommen. Sie kommt immer näher auf mich zu, hebt die Hand und schieb das Unkraut beiseite. „Hallo.“, haucht sie und grinst auf mich herab. Es ist absolut demütigend am Boden zu liegen und ängstlich zu ihr hoch zustarren, darauf wartend, dass sie mich tötet. Ich habe nichts bei mir. Den hölzernen Speer habe ich beim Sturz verloren. Völlig ungeschützt und ausgeliefert liege ich im Graben und warte darauf, dass ihr Messer sich zwischen meine Rippen bohrt. Sie scheint sich keine Mühe machen zu wollen, zu mir hinab zusteigen. Langsam hebt sie die Hand mit dem bereits blutigen Messer und zielt auf meinen Brustkorb. Ich hoffe darauf, dass ich rechtzeitig merke, wann sie wirft, um mich dann wegzudrehen. Sie holt aus, eine tausendstel Sekunde jedoch, bevor sie abwirft, erscheint ein riesiger Schatten hinter ihr und sie erstarrt. Ihre Augen weiten sich und fassungslos starrt sie auf ihre Brust. Ich starre ebenfalls, denn ein Schwert ragt heraus. Dieser Moment der Ablenkung reicht aus, um das Messer zu vergessen und sich nicht zur Seite zu drehen. Ein brennender Schmerz zieht sich plötzlich über meine linke Wange. Entsetzt lege ich die Hand daran. Als ich sie wieder zurückziehe ist sie voller Blut. Das Mädchen hat ihr Ziel verfehlt, weil sie plötzlich das Schwert zwischen den Rippen hatte. Dabei muss ihre Hand ein Stück nach rechts gegangen sein. Nun kippt das tote Mädchen in den Graben zu mir. Im gleichen Moment ertönt ein Kanonenschuss. Nun sehe ich nach oben. Tarlan steht am Rande des Grabens und streckt mir seine riesige Hand entgegen. Perplex ergreife ich sie, lasse mich von ihm aus dem Graben ziehen. Ich stehe vor ihm, er ist sicher zwei Köpfe größer als ich. Seine dunkle, fast schwarze Haut lässt ihn noch bedrohlicher wirken. Ich kann nicht anders, als hysterisch zu lachen. „Ich glaube es nicht. Warum reißt ihr euch alle nur so darum, mich zu töten? Erst Wendy, dann kam sie“, ich zeige in den Graben, „ und hat Wendy getötet, Jetzt kommst du und tötest sie. Und jetzt mich oder wie?“ Er schüttelt bloß den Kopf. Dann zeigt er hinter sich. Ich sehe hin und mir schießen Tränen in die Augen. Tara ist tot. Sie liegt dort wie zusammengefaltet. Ein schmutzig grauer Haufen. Ihr Genick ist gebrochen und verdreht, das muss beim Sturz passiert sein. Sofort drehe ich den Kopf zur Seite und unterdrücke meine Tränen. Tarlan spricht und seine tiefe, ruhige Stimme lässt mich zuhören. „Ich werde dich nicht töten Quinn. Das bringt mir nichts. Und was diese beiden angeht: Sie denken, dass du irgendetwas hast. Etwas, das du allen verheimlicht hast.“ Überrascht sehe ich ihn an. „Warum denn? Ich habe mich in ihrer Gegenwart nie geschickt angestellt.“ „Aber du bist jetzt schon so weit gekommen.“ Er lächelt. Ein wenig schaurig sieht es aus. „Sie wissen nicht, dass du bis hierhin einfach nur Glück hattest.“ Glück. Das ist es. Er zeigt mir ganz deutlich, dass ich hier nicht die geringste Chance habe. Er lässt mich bloß aus Mitleid am leben. Weil er weiß, dass er mir im Ernstfall ohnehin überlegen ist. Natürlich weiß ich das auch. Aber immer wieder schwebt diese Hoffnung in mir. Was wäre wenn…
„Übrigens gehen auch Cane und seine Gefolgsleute auch davon aus, dass du etwas ganz bestimmtes kannst. Sie haben ein wenig Angst vor dir.“ Er lacht. Ganz leise. „Sie sind aber genauso sehr hinter dir her, wie diese beiden Mädchen. Du solltest ein wenig Acht geben.“ Was er sagt erfüllt mich mit Stolz. Sie haben ein wenig Angst vor mir. Vor etwas, das ich gar nicht besitze, aber sie glauben es. Und es macht mich ein klein wenig überlegender. Die Tatsache, dass sie es auf mich abgesehen haben, ist natürlich nicht sehr günstig.
Tarlan nimmt mich mit zu dem Baum, auf dem er immer schläft. Zwischen den Ästen hängen alle seine Sachen. Er hat den blauen Bogen erwischt, nutzt ihn jedoch nach eigenen Angaben nur zu Jagdzwecken. Für den Kampf hat er zwei Messer und das Schwert mit dem er das Mädchen aus Distrikt 10 getötet hat. Einen Rucksack hat er auch, sogar mit zwei Schlafsäcken. Einen Ast weiter hängen Reste eines toten Wildschweins. Sein Fähigkeiten im jagen scheinen großartig zu sein, wenn er es ganz allein erlegen konnte. Er lässt mich ein Stück davon essen und schmiert die Wunde an meiner Wange mit Salbe ein. „Wo hast du die her?“, frage ich. „Das ist ein Sponsorengeschenk.“; antwortet er. „Nachdem ich den Jägerwespen entkommen bin, hatte ich eine kleine Auseinandersetzung mit dem Jungen aus Distrikt 10. Er hat ganz schön rein gehauen mit seinem Messer.“ Er zeigt mir eine lange, tiefe Narbe in seinem Oberarm. Ich verziehe das Gesicht. „Du hast den Jungen getötet oder?“ Ich erinnere mich an sein Bild im Himmel. Tarlan nickt. „Ich hatte keine Wahl. Außerdem ist er über das kleine Mädchen aus Distrikt 12 hergefallen.“ „Mary? Oh Gott.“ Ich schüttele den Kopf über so viel Ungerechtigkeit. Jetz weiß ich also was mit ihr passiert ist. Wenn ich sie nicht im Wald hätte stehen lassen, wäre sie vermutlich nicht tot. Oder ich wäre es mit ihr.
„Hast du eigentlich Sponsoren?“, fragt Tarlan. „Du hast im Training nicht sonderlich viel Eindruck gemacht.“ Er meint es nicht böse, das merke ich. Er ist bloß ehrlich. Ich lächele leicht. „Nein, ich glaube ich habe keine. Zumindest habe ich noch kein Geschenk bekommen. Allerdings brauchte ich das bis jetzt auch nicht. Ich war noch nicht am verhungern und bis auf heute noch nie verletzt.“ Wie konnte ich nur so viel Glück gehabt haben? Er nickt nur nachdenklich. „Du hast dich nie mit Cane und den anderen zusammengetan oder?“, will ich wissen. Er schüttelt den Kopf. „Nein, aus dem Gemetzel halte ich mich grundsätzlich raus. Ich bin nicht der Typ, der in der Gruppe auf alle Schwächeren losgeht. Habe ich den Eindruck gemacht?“ Ich lache leise. „Ja, ein wenig. Woher weißt du das denn über sie? Das sie hinter mir her sind meine ich.“ Zunächst antwortet er mit einem Grinsen. Dann sagt er: „Ich beobachte sie. Im Dunkeln sieht man mich nicht besonders gut. Ich kann alle ihre Gespräche belauschen.“ Mit dieser Antwort gebe ich mich zufrieden. Ich bin müde. „Schlaf etwas, Quinn.“, sagt er. „Ich passe schon auf, dass du hier nicht vom Baum fällst. Wenn etwas passiert wecke ich dich.“ Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich ihm vertrauen kann, doch ich bin einfach zu müde. Was heute passiert ist, sitzt noch tief. Gerade die Trauer um Tara, zudem hat Tarlan mir erzählt dass die anderen Pferde schon lange tot waren. Und die Erkenntnis dass ich heute mehr als einmal hätte sterben können. Wieder einmal denke ich an meine Eltern und Freunde und auf einmal bekomme ich schrecklicheres Heimweh als je zuvor. Ich will nicht mehr hier sein, wo ich rund um die Uhr Angst um mein Leben haben muss. Ich will nicht mehr ständig auf der Flucht sein. Die Sicherheit, die ich zuhause habe - in der Arena ist sie vollends verschwunden. Hier ist alles ernst. Zu ernst. Die Tränen kommen ganz plötzlich, wie immer, wenn ich weinen muss und ich drehe den Kopf so zu Seite, dass er in meiner Regenjacke verschwindet. Ich will nicht dass Tarlan sieht, dass ich weine. Er weiß es trotzdem. Er hat es bemerkt. Doch er tut so, als wäre nichts, um mir diesen privaten Moment zu lassen. Noch während die Hymne ertönt und die Bilder der beiden Mädchen zeigt, schlafe ich ein.

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